Meinungen - 25.01.2023 - 14:29
Im neuen Systemkampf mit autoritären Regimen wie in Russland und China setzt der Westen auf Indien, die größte Demokratie der Welt, die seit den 1990er Jahren international aufgestiegen ist. Auf der einen Seite hat sich das Land seit den Wirtschaftsreformen 1991 zu einem Wachstumsmotor der Weltwirtschaft entwickelt.
Aufgrund ihrer Grösse ist die Indische Union ein Schlüsselakteur in globalen Handels- und Klimaverhandlungen. Doch das Land hat auch soziale und politische Probleme und seit acht Jahren einen schwer zu durchschauenden Premierminister, Narendra Modi, der sich bereits erneut im Wahlkampfmodus befindet.
Die nächsten Parlamentswahlen sind für den Sommer 2024 angesetzt und wenn Modis rechtskonservative, hindu-nationalistische Partei Bharatiya Janata Party (BJP) einen weiteren Sieg erringt, könnte er seine dritte Amtszeit antreten.
Doch Modi ist umstritten. Bevor er 2014 indischer Premierminister wurde, war er vor allem wegen seiner Mitverantwortung für die blutigen Unruhen 2002 im Bundesstaat Gujarat berüchtigt, in dem er damals Regierungschef war.
Die interreligiösen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen, bei denen es drei Tage lang zu brutaler Gewalt kam und es Hunderte von Toten und Verletzten gab, werden von Wissenschaftlern als vorsätzliches Pogrom gegen Muslime eingestuft.
Eine BBC-Dokumentation, in der Modis Verhalten in der Auseinandersetzung kritisch beleuchtet wird und deren erster Teil am 17. Januar ausgestrahlt wurde, darf in Indien nicht gezeigt werden. Angeblich sind Twitter und YouTube der Aufforderung nachgekommen, keine Links oder Videos zu der BBC-Dokumentation in Indien zu verbreiten.
Wegen seiner angeblichen Mitverantwortung für die Unruhen wurde Modi die Einreise in die USA untersagt, bis er Premierminister wurde. Obwohl einige seiner engsten Mitarbeiter wegen ihrer Beteiligung an den Unruhen zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, ist Modi selbst damals aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden.
In den folgenden Jahren legte Modi in seinem politischen Diskurs den Schwerpunkt auf Entwicklung und eine industriefreundliche Politik. Im Vorfeld der Parlamentswahlen 2014 vermied er die hindu-nationalistische Agenda seiner Partei und präsentierte sich als Wirtschaftsreformer und geschickter Verwalter.
Das Parteiprogramm zur Bekämpfung der weit verbreiteten Korruption, zur Stärkung der Rechenschaftspflicht der Verwaltung und die Versprechen einer digital vernetzten und transparenten Regierungsführung fanden bei den Wählern Anklang.
In den vergangenen acht Jahren hat sich jedoch ein Personenkult um Modi entwickelt. Überall in Indien sind riesige Plakatwände mit seinem Bild zu sehen, und alles wird ihm zugeschrieben – sogar das indische Covid-Impfzertifikat wurde mit Modis Konterfei versehen. Und doch scheint er ein zutiefst verunsicherter Führer zu sein, der sich keiner Kritik stellen will: In seinen Jahren als Premierminister hat er noch nie auf Fragen von Reportern auf einer Pressekonferenz beantwortet.
Während der Premier sich kritischen Fragen entzieht, scheint der Mythos Modi jedes Jahr größer zu werden. Anfangs konzentrierte sich die Erzählung über Modi auf seine Vergangenheit als bescheidener Teeverkäufer an einem Bahnhof, der aus einer armen Familie stammte.
Die Symbolik des Aufstiegs eines Teeverkäufers zum Premierminister und seine Versprechen, Hochgeschwindigkeitszüge und Millionen von Arbeitsplätzen zu schaffen, beflügelten die Vorstellungskraft der sozial aufstrebenden indischen Wählerschaft.
Nach seinem Amtsantritt wurde Modi als unermüdlicher und selbstloser Führer dargestellt, der 18 Stunden am Tag arbeitet und seit 20 Jahren keinen einzigen Urlaub gemacht hat.
Mit der Corona-Pandemie kam die nächste Wandlung – er trat als Weiser mit langem Haar und längerem Bart auf, der den «vishwa», den (Welt)-Guru Indien, anführt.
Seine Schmeichler haben ihn bereits zum «Vater des neuen Indien» erklärt und ihn damit auf eine Stufe mit dem Vater der Nation, Mahatma Gandhi, gestellt, der mit seinem gewaltlosen Widerstand erfolgreich dazu beitrug, die britische Kolonialherrschaft über Indien zu beenden.
Doch obwohl Modi versucht, Indien rhetorisch zu erhöhen und die zivilisatorische und moralische Größe des Landes zu betonen, ist keine dieser Ideen neu. Das Konzept der Eigenständigkeit, das im Mittelpunkt seiner «Kampagne für ein selbständiges Indien» steht, ist seit der Unabhängigkeit ein zentrales Bestreben der indischen Regierungen.
Sogar Modis Motto für Indiens diesjährigen G20-Vorsitz – «Die Welt ist eine Familie» – wurde von der ehemaligen Premierministerin India Gandhi in ihrer Rede auf dem Lusaka-Gipfel der Bewegung der Blockfreien 1970 als zentraler Leitwert der indischen Außenpolitik lanciert.
Was heute anders ist, ist die Reichweite der sozialen Medien und die Fähigkeit von Modi und seiner Partei, Millionen für PR-Kampagnen und politische Anzeigen auszugeben. Die IT-Abteilung seiner Partei kontrolliert eine der größten Social-Media-Maschinen der Welt, die Propaganda und Fehlinformationen verbreitet und oft auch Cyber-Mobbing betreibt.
Whatsapp und Twitter sind die perfekten Werkzeuge, um Modis bombastische Reden und eingängige Slogans zu verbreiten. Ein weiterer Sieg der BJP im nächsten Jahr und eine dritte Amtszeit Modis sind daher sehr wahrscheinlich. Damit kommt Modi dem Erbe von Jawaharlal Nehru, dem ersten Premierminister des unabhängigen Indiens mit vier Amtszeiten, einen Schritt näher.
Aber mit Modis Amtszeiten wird auch ein innerlich geschwächtes Indien verbunden sein. Als idealistischer Freiheitskämpfer strebte Nehru danach, ein starkes und geeintes säkulares demokratisches Land aufzubauen. Während Modi sich als muskulöser Führer präsentiert hat, haben religiöse Gewalt und Zensur im öffentlichen Raum zugenommen und die Debattenkultur im Parlament wurde deutlich eingeschränkt.
Indiens Rolle und Einfluss in der Weltpolitik dagegen wächst stetig. Aber wird das Land die Herausforderungen der kommenden Jahre meistern können, wenn die Spaltungen in der indischen Gesellschaft immer größer und tiefer werden?
Dieser Beitrag erschien zuerst im Tagesspiegel vom 23.01.2023.
Manali Kumar ist Dozentin an der Universität St.Gallen und Chefredakteurin von 9DASHLINE.
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