Meinungen - 29.11.2011 - 00:00 

Putins fremde Regierungspartei

Die Russinnen und Russen wählen am 4. Dezember 2011 ein neues Parlament. Ulrich Schmid, HSG-Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands, über den Zustand der Demokratie im grössten Land der Welt.
Quelle: HSG Newsroom

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2. Dezember 2011. Bis 2006 gab es auf russischen Wahlzetteln die Kategorie «gegen alle». Wer keinen der aufgestellten Kandidaten wählen wollte, setzte hier ein Kreuz. Damit konnte man sich zur Demokratie bekennen, ohne beim abgekarteten Spiel der Kandidatenkür mitzumachen.

Auch bei den Parlamentswahlen wird oft nicht mit gleich langen Spiessen gekämpft. In der russischen Medienlandschaft herrschen italienische Zustände: Die wichtigen Fernsehsender gehören entweder dem Staat oder werden von staatsnahen Holdings kontrolliert. Die Verfassung garantiert die Pressefreiheit. Bei der Meinungsbildung der Bevölkerung spielen die Printmedien und die neuen Informationstechnologien jedoch eine untergeordnete Rolle. Darüber hinaus wird auch eine subtile Form der Zensur ausgeübt. In Russland gibt es für Journalisten ein ausgeklügeltes staatliches Registrierungs- und Akkreditierungssystem. Missliebige Stimmen können so mit wenig Aufwand vom Informationsfluss abgeschnitten werden.

Zweckbündnisse zur Machterhaltung

Auch das Parteiensystem entspricht kaum westlichen Standards. Die Regierungspartei «Einiges Russland» wurde erst vor zehn Jahren gegründet; allerdings sind die meisten politischen Parteien in Russland Zweckbündnisse, die der Erhaltung momentaner Machtpositionen dienen sollen. «Einiges Russland» bildet hier keine Ausnahme. Sogar Wladimir Putin hält sich alle Optionen offen, indem er sich bei der Übernahme des Parteivorsitzes weigerte, Parteimitglied zu werden. Deshalb mussten im Jahr 2008 die Parteistatuten geändert werden. Wenn die Partei scheitern sollte, könnte Putin auf diese Distanz pochen und seine Person deutlich von der Partei trennen.

Das Parteiprogramm von «Einiges Russland» verspricht das Blaue vom Himmel herunter: Es beschwört die Modernisierung des Landes, fordert ein «soziales Russland», eine vom Ausland unabhängige Wirtschaft, gute Bildung und Gesundheitsversorgung und als «unbedingten Wert» Gerechtigkeit. Bisher ist allerdings wenig von dieser politischen Lyrik umgesetzt worden. Russlands Staatshaushalt ist dem Ölpreis nach wie vor auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, auf dem Korruptionsindex von Transparency International belegt Russland Rang 154 von 178, die Bürokratie lähmt privatwirtschaftliche Initiativen (in Russland dauert eine Unternehmensgründung 30 Tage gegenüber 13 Tagen in Westeuropa), die Lebenserwartung beträgt 66 Jahre (in der Schweiz 81). Trotz dieses mageren Leistungsausweises verfügt Putin über Zustimmungsraten, von denen westliche Politiker nur träumen können – seine autoritäres Handeln entspricht den Erwartungen vieler Russen, die von einem starken Führer träumen.

Politisch zur Verantwortung gezogen?

Am kommenden Sonntag treten sieben Parteien an, von denen aber nur vier reale Chancen haben, in die Duma einzuziehen: Die Regierungspartei «Einiges Russland», die Kommunisten, die Rechtspartei «Gerechtes Russland» und Wladimir Schirinowskis «Liberaldemokraten», deren populistische und nationalistische Forderungen allerdings wenig mit dem hehren Parteinamen zu tun haben.

Lange Zeit glaubte man, dass die Parlamentswahlen einfach den status quo, nämlich die unangefochtene Herrschaft der Regierungspartei, bestätigen würde. Neueste Erhebungen des unabhängigen Levada-Instituts sagen allerdings einen herben Sitzverlust für das «Einige Russland» voraus. Demnach würde die Regierungspartei 62 ihrer bisher 315 Sitze in der 450 Sitze umfassenden Duma einbüssen. Ein bisschen milder sehen die Prognosen des regierungsnahen Meinungsforschungsinstituts VZIOM aus: Hier geht man von einem Verlust von 53 Sitzen aus. Damit würde erstmals in der postkommunistischen Geschichte eine Partei für ihr Versagen auch politisch zur Verantwortung gezogen.

Sehr geschadet hat dem «Einigen Russland» eine Internetkampagne des Bürgerrechtlers Alexej Navalny, der die Regierungspartei «eine Bande von Betrügern und Dieben» nannte. In der Levada-Studie stimmen 36% der Befragten dieser Einschätzung zu. Auch im schlimmsten Fall würde «Einiges Russland» jedoch immer noch über eine solide Mehrheit verfügen – die Dominanz der Regierungspartei erklärt sich nicht so sehr aus ihrer Stärke, sondern aus dem Fehlen von Alternativen.

Die Intelligenzija liest lieber Puschkin

Allerdings darf man für einmal den Schwarzen Peter nicht vorschnell dem Kreml zuschieben. Am Elend der Opposition in Russland sind vor allem die demokratischen Parteien selbst schuld. Bislang haben sich noch alle oppositionellen Kleinparteien untereinander zerstritten oder sind an der Arroganz ihrer Vorsitzenden gescheitert. Auch Wahlfälschungen sind in Russland kein Thema: Bis heute haben die Russen die herrschenden Machtverhältnisse an der Urne immer brav bestätigt – der Protest beschränkte sich auf die traditionelle Wahlabstinenz der Intelligenzija, die statt Parteiprogramme lieber Puschkin liest.

Bild: Photocase/typeandsound

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