Meinungen - 11.05.2016 - 00:00 

Ein muslimischer Bürgermeister für London

Ist die Wahl von Londons neuem Bürgermeister Sadiq Khan, einem Muslim und Sohn pakistanischer Einwanderer, als ein Stück Zeitgeschichte zu werten? Ein Beitrag von Marta Dominguez Diaz.
Quelle: HSG Newsroom

12. Mai 2016. Historisch gesehen ist die Neuheit des Ereignisses ein Konstrukt, das die Ansicht bekräftigt, Europa habe eine gemeinsame Identität, weil es historisch gesehen christlich ist (und, darüber hinaus, implizit weiss). Man sagt, diese angeblich geschlossene Identität stehe wegen der Auswirkungen der jüngsten Wanderungswellen zurzeit vor grossen Herausforderungen.

Das Konstrukt ist allerdings nicht neu und steht vor einem Problem, nicht nur in Bezug auf das, was wir über den Islam (und das Judentum) denken, sondern auch hinsichtlich dessen, was wir glauben, dass Europa war und ist.

Osmanischer Einfluss auf Europa

Der Islam war historisch gesehen über lange Zeit ein grundlegender Teil Europas, oder zumindest seiner südlichen und östlichen Regionen. Wesentliche Teile der Iberischen Halbinsel waren zwischen dem 8. und 16. Jahrhundert unter muslimischer Herrschaft. Sizilien wurde zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert von Muslimen regiert und Griechenland war von Mitte des 15. Jahrhunderts bis 1832 vom Osmanischen Reich annektiert. Auch in Ungarn und Albanien war der osmanische Einfluss bedeutend.

Heute ist ein Teil der Türkei, und vor allem Istanbul als grosse europäische Hauptstadt, mehrheitlich muslimisch. Darüber hinaus war und bleibt der Islam ein essentieller Teil der religiösen Landschaft des Balkans, einer Region, in der religiöse Fremdbestäubung eher die Regel als die Ausnahme war. Ivo Komšić, der derzeitige Bürgermeister des mehrheitlich muslimischen Sarajevos, ist katholisch.

Obwohl London eine der europäischen Städte mit einer grösseren muslimischen Präsenz ist, ist es dennoch ein Ort, an dem Muslime nur 12.4 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen. Das bedeutet, dass viele Londoner einen Politiker gewählt haben, dessen religiöse Orientierung nicht mit der ihren übereinstimmt. Man tut jedoch gut daran zu bedenken, dass auch das nicht neu ist. Rotterdam, eine Stadt, in der Muslime etwa ein Viertel der Bevölkerung stellen, hat seit 2009 einen in Marokko geborenen, muslimischen Bürgermeister.

Was macht Sadiq Khans Wahl einzigartig?

Dass Sadiq Khan Muslim ist, wurde von seinen Gegnern benutzt, um ihn in Misskredit zu bringen. Sein konservativer Kontrahent Zac Goldsmith hat versucht, eine Verbindung zwischen Khan und Dschihadisten herzustellen. Seine Anschuldigungen gründete er darauf, dass Khan, ein früherer Menschenrechtsanwalt, den Führer der Nation of Islam, Louis Farrakhan, vor Gericht verteidigt hat. Khans islamischer Glaube wurde auch aus der Labour Party heraus kritisiert, und natürlich von Islamisten, die in seinem Liberalismus mangelnde religiöse Bekenntnisse sehen.

Obwohl Hardliner-Positionen zum Islam und zur Einwanderung seit vielen Jahren von rechten Parteien in ganz Europa propagiert werden, von Frankreichs Front National bis zu Deutschlands Alternative für Deutschland, ist neu, dass man religiöse Überzeugungen, und nicht einfach Religion, als Mechanismus nutzt, um einen Kandidaten abzuwerten. Das ist besorgniserregend für die Religionsfreiheit, weil nicht etwa der angenommene Effekt, den der Islam, wie manche glauben, auf Individuen oder Gemeinschaften hat, als falsch erachtet wird, sondern die simple Tatsache, Muslim zu sein.

Andere entscheidende Neuheiten bei Khans Fall sind ebenfalls beachtenswert. Die weit verbreitete negative Reaktion auf diese Taktiken ist bisher einmalig. Es gab bei der Conservative Party und bei der Labour Party sowie in der breiteren Öffentlichkeit empörte Kritik an den Attacken.

Zudem ist der Islam nur als Verunglimpfung und nicht als Pluspunkt von Khans Position gewertet worden. Der Islam wird als etwas gesehen, das Rechte eher beschränkt, anstatt als eine Inspiration, sie zu fördern. Das sagt uns auch etwas Wichtiges darüber, wie der Islam von Europäern gesehen wird. Daher werden die Besonderheiten von Khans Gewandtheit und bei seinem Programm – sein Versprechen, die Immobilienkrise und die hochschiessenden Nahverkehrstarife in Angriff zu nehmen sowie seine Vision eines grüneren und sichereren Londons – nicht in Verbindung zu seinem Glauben gesehen, der ja immerhin ein Wertesystem darstellt, sondern beinahe als Besonderheiten trotz des islamischen Glaubens.

Seine Anhänger, im Gegensatz zu seinen Gegnern, haben nicht die «Islam-Karte» gespielt, sondern die der Klassenzugehörigkeit, indem sie argumentieren, der neue Bürgermeister sei der Inbegriff einer Erfolgsstory muslimischer Einwanderer. Dieser Faktor, obwohl neu, überrascht niemanden, da Säkularität ein Grundprinzip von Europas liberaler Linke ist und das Nutzen der Religionszugehörigkeit für politische Zwecke aus dieser Perspektive als eine Verletzung des Säkularitätsprinzips gesehen würde.

Khan selbst spricht nur über seine muslimische Identität, wenn er sehr direkt damit konfrontiert wird. Aber wenn er es tut, nutzt er das bisher klug, um eine neue, konstruktivere Art vorzuschlagen, Huntingtons Paradigma von ‚Uns (Abendländer) gegen Sie (Muslime)’ zu betrachten. In einem Interview mit dem Times Magazine antwortete Khan auf die Frage, ob er als Muslim eine besondere Verantwortung spüre, religiösen Extremismus zu bekämpfen:

«Muslim zu sein bringt Erfahrungen mit sich, die ich im Bezug auf den Umgang mit Extremisten anwenden kann (...) Es ist wirklich wichtig, dass ich meine Erfahrungen nutze, um Radikalisierung und Extremismus zu überwinden (...) Ich bin die westliche Welt, ich bin ein Londoner, ich bin Brite, ich bin muslimischen Glaubens, asiatischen Ursprungs, pakistanischstämmig, also egal ob es der (Islamische Staat) oder die Anderen sind, die unsere Art zu leben zerstören wollen und über den Westen reden: sie reden über mich.»

In Zeiten der zunehmend angespannten Beziehungen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Europa können wir nur hoffen, dass diese aufrichtige Art, die Voraussetzungen des ‚Aufeinanderprallens’ zu verschieben, zumindest teilweise für seinen Sieg verantwortlich ist. Wie Homa Khaleeli im Guardian schrieb: «Sadiq Khans Sieg wird den Islamhass nicht beenden, aber er gibt Hoffnung.»

Foto: Photocase

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