Forschung - 24.02.2021 - 00:00 

Die Digitale Pille: Gesundheitsversorgung der Zukunft

Das Gesundheitssystem steht unter hohem Veränderungsdruck: Wir leben länger, leiden aber häufig an chronischen Krankheiten. Wie Kranke mit Hilfe eines digitalen Gesundheitssystems besser versorgt werden können, haben Forschende der HSG untersucht. Ein Interview mit Annette Mönninghoff, Co-Autorin des neuen Buches «Die Digitale Pille».
Quelle: HSG Newsroom

24. Februar 2021.

Woran krankt unser Gesundheitssystem aktuell?

Unser Gesundheitssystem ist eigentlich eine Erfolgsgeschichte. Die Fortschritte in der Medizin und im Lebensstandard haben dazu geführt, dass sich die Lebenserwartung weltweit innerhalb der letzten hundert Jahre verdoppelt hat. Einen grossen Teil dieses Erfolgs haben wir der verbesserten Hygiene sowie zwei zentralen Erfindungen zu verdanken: Impfungen und Antibiotika. Mit dem gestiegenen Wohlstand hat sich jedoch auch unser Lebenswandel verändert, nur leider nicht zum Guten: Wir bewegen uns zu wenig, essen zu viel und zu ungesund.

Dies ist ein globales Phänomen und betrifft neben der Schweiz auch Länder wie die USA, China, Mexiko oder die Arabischen Emirate. Hinzu kommen Laster wie Rauchen oder übermässiger Alkoholkonsum. Mit diesem Verhalten machen wir uns selbst krank und überfordern unser Gesundheitssystem. Über 80% der Gesundheitsausgaben in der Schweiz werden auf die Behandlung von chronischen Krankheiten verwendet, die durch einen gesunden Lebenswandel zu einem grossen Teil vermieden oder verzögert werden könnten. Unser Gesundheitssystem therapiert Krankheit erfolgreich, ist aber schlecht darin, Gesundheit zu bewahren. Die Gesundheitskosten steigen daher ins Unermessliche und keine Trendwende ist ersichtlich.

 

 

 

 

Unser Gesundheitssystem therapiert Krankheit erfolgreich, ist aber schlecht darin, Gesundheit zu bewahren.

 

 

 

Wie kann die Digitalisierung dabei helfen, die Gesundheitsversorgung zu verbessern?

Wir sehen fünf Hebel, wie Digitalisierung die Gesundheitsversorgung verbessern kann. Erstens kann sie Verhaltensveränderung unterstützen. Ein Beispiel hierfür sind z.B. Apps oder digitale Chatbots, die Menschen dabei unterstützen, gesünder zu leben.

Zweitens kann Digitalisierung die Effizienz im Gesundheitssystem steigern. Ein Paradebeispiel hierfür ist z.B. ein elektronisches Patientendossier, das verhindern kann, dass Tests mehrfach durchgeführt werden, nur weil die verschiedenen Ärzte keinen Zugriff auf Daten haben.

Drittens kann Digitalisierung die Medizin demokratisieren. Dies geschieht zum Beispiel dadurch, dass sich Patienten im Internet heutzutage detailliert über ihre Krankheit informieren können. Viertens glauben wir, dass Digitalisierung die Medizin besser machen kann. Das medizinische Wissen verdoppelt sich heute alle 70 Tage, sodass Ärzte bessere Entscheidungen treffen, wenn Sie von digitalen Assistenten unterstützt werden. Zuletzt bringt die Digitalisierung für die Pharmaindustrie grosse Chancen, zum Beispiel durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz.

Welche chronischen Erkrankungen haben Sie untersucht? Und weshalb fiel Ihre Wahl auf genau diese fünf Beispiele?

Wir haben uns auf die fünf häufigsten chronischen nichtübertragbaren Krankheiten konzentriert, nämlich kardiovaskuläre Krankheiten (z.B. Herzinfarkte oder Schlaganfälle), Atemwegserkrankungen (z.B. Asthma), Diabetes, Krebs und psychische Krankheiten (z.B. Depressionen).

Was kann digitale Innovation in Bezug auf die fünf genannten Erkrankungen leisten?

Es gibt viele verschiedene Ansätze. Im Bereich von Krebs kann die Digitalisierung wohl vor allem in der Entwicklung neuer Therapien helfen. Denn systematisch erfasste Krankendaten (Realweltdaten) von Krebspatienten können mit Hilfe von künstlicher Intelligenz analysiert werden. So lassen sich mögliche neue Therapieansätze finden. Aber auch bei der Diagnose von Krankheiten kann Digitalisierung helfen. Studien zeigen zum Beispiel, dass künstliche Bilderkennung heute schon so gut ist, dass sie es mit einem Radiologen aufnehmen kann. Allerdings zeigt sich auch, dass Patienten bisher die Diagnose eines Arztes die eines Algorithmus vorziehen. Das sind nur zwei Wirkungsfelder, es gibt noch viele weitere, die wir im Buch aufzeigen.

Welche Forschungsmethode führte Sie zu dieser Einsicht?

Wir sind breit an das Thema herangegangen und haben hunderte Unternehmen und Organisationen angeschaut, von Patientenvereinigungen über Start-ups bis zu grossen Unternehmen. Für jedes Fallbeispiel haben wir herausgeschält, wie sie auf Basis von IT das Gesundheitssystem verändern. Über viele Iterationen hinweg haben wir die Fallbeispiele in 25 Wirkungsmuster geclustert. In unserem Buch stellen wir diese 25 Wirkungsmuster, sowie exemplarische «Mini-Cases» von Start-ups und innovativen Unternehmen vor.

Wie lässt sich dem Kostendruck im Gesundheitssystem begegnen?

Digitalisierung kann dabei helfen, das Gesundheitssystem effizienter zu gestalten. Dabei ist ganz klar unser Standpunkt, dass diese Effizienzgewinne nicht auf Kosten der Qualität und der Menschlichkeit der Medizin gehen. Digitalisierung kann Medizin günstiger UND besser machen.

Wie soll das Ihrer Ansicht nach gehen?

Lassen Sie mich ein einfaches, konkretes Beispiel geben: Sie wechseln den Zahnarzt. Das erste, was der neue Zahnarzt machen wird, sind neue Röntgenbilder ihres Gebisses, selbst wenn der alte Zahnarzt ein solches Bild erst vor Kurzem erstellt hat. Denn der neue Zahnarzt hat keinen Zugriff zu dem alten Bild. Durch eine digitale Patientenakte können wichtige Diagnosen digital aufbewahrt und für mehrere Ärzte zugänglich sein. Dies spart Kosten und erhöht die Qualität. Denn eine erneute Röntgenaufnahme würde nicht nur 150 CHF Zusatzkosten, sondern auch eine unnötige Strahlenbelastung für den Patienten verursachen.

 
Wenden wir den Blick von den Kosten auf diejenigen, die die Versorgung sicherstellen: Böte die digitale Pille auch Spitälern und Pflegedienstleistern Entspannung hinsichtlich des Personalmangels?

Durchaus! Hierfür gibt es grosses Potenzial. In der Schweiz verbringen Ärzte rund die Hälfte ihrer Zeit mit administrativen Aufgaben. Viel Zeit wird zum Beispiel für die Dokumentation von erbrachten Leistungen in Form von Berichten und Abrechnungskürzel investiert. Spezialisierte Spracherkennungssysteme könnten diese Dokumentation für den Arzt übernehmen – dies könnte zu deutlichen Entlastungen bei Ärzten und Pflegepersonal führen.

 

 

 

 

Die Corona-Pandemie ist ein unglaublicher Katalysator für den digitalen Wandel in der Medizin.

 

 

 

Welche Antworten liefert Ihre Forschung in Bezug auf die Pandemie? Aktuell sind hier vor allem Pflegende und medizinisches Personal gefordert. Was kann digitale Innovation in einer Krise wie dieser ausrichten?

Wir haben das Buch zu Beginn der Pandemie fertiggestellt und uns damals bewusst dagegen entschieden, zu sehr auf diese einzugehen. Wir fragen, wie Digitalisierung bei der Verhinderung und Behandlung von chronischen Krankheiten Nutzen stiften kann. Pandemien hingegen sind getrieben durch Infektionskrankheiten. Natürlich gibt es auch in Pandemien Einsatzfelder für digitale Technologien, sei es bei der Nachverfolgung von Infektionsketten durch Apps oder durch das Vernetzen von Ärzteteams weltweilt. Der Nutzen von digitalen Tracking-Apps kann erst nach der Pandemie grundlegend bewertet werden. Dafür ist es noch zu früh. Was jedoch heute schon klar ist: Die Corona-Pandemie ist ein unglaublicher Katalysator für den digitalen Wandel in der Medizin.

Fazit: Wie sieht die digitale Zukunft des Gesundheitssystems aus? Wie kann es digital gesunden?

Wir sehen Veränderung in der Branche, aber auch viele verkrustete Strukturen, die sich nur langsam verändern lassen. Mutige Vorreiter wie in Estland oder Finnland sind gefragt. Dort sind schon heute viele Prozesse auf nationaler Ebene digitalisiert.  Wenn Europa und der Standort Schweiz auch künftig eine führende Rolle in der Medizinforschung einnehmen möchten, müssen Medizindatenbanken und Forschung an der Schnittstelle von Digitalisierung und Medizin auf Europäischer Ebene gefördert werden. Momentan geht China hier in grossem Tempo voran.

Die Zusammenfassung der Forschungsergebnisse erscheint in Form des Buchs «Die Digitale Pille» am 10. Februar 2021 (Campus Verlag). Die Untersuchung leiteten die HSG-Forschenden Elgar Fleisch, Andreas Herrmann und Annette Mönninghoff sowie HSG Honorarprofessor und Roche-Verwaltungsratspräsident Christoph Franz.

Bild: Adobe Stock / denisismagilov

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