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Meinungen - 22.12.2021 - 00:00 

Perspektiven christdemokratischer Politik

Welche Funktion, welche Perspektiven haben christdemokratische Parteien noch? Werden sie noch gebraucht? Andreas Böhm blickt auf die CDU in Deutschland – von ihrer Geschichte, über die Ära Merkel bis zur Zukunft unter Merz und zieht Vergleiche zu Österreich.
Source: HSG Newsroom

22. Dezember 2021. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass am Tage des Grossen Zapfenstreichs für Angela Merkel Sebastian Kurz seinen Rücktritt von allen verbliebenen politischen Ämtern verkündete. Jener Kurz, dessen Anspruch es war, ein konservativ-populistisches Gegenmodell zu Merkels pragmatischer Regierungspolitik zu etablieren. Beide, Merkel wie Kurz, sahen sich vor eine ähnliche Herausforderung gestellt. Die Position ihrer christ-demokratischen Parteien im politischen Spektrum erodierte stetig. Dies hatte mehrere Gründe. Die fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft mit der Lockerung intermediärer Strukturen führte zum einen zur stetig fortschreitenden Auflösung der sie tragenden Milieus. Zum anderen ist mit dem Ende des Eisernen Vorhangs auch ihre ideologische Basis verloren. Westbindung und Antikommunismus dienten neben der europäischen Integration als Kitt der ansonsten recht heterogenen Parteien. Diese breite Ausrichtung war ein entscheidender Vorteil in der Nachkriegszeit. Im Gegensatz zu eher eng ausgerichteten Parteien, konnten unter dem Dach einer Union viele verschiedene Richtungen, die ansonsten nicht allzu viel einte, ihren Platz finden. Nun stellte sich die Frage, was diese Verbünde eigentlich zusammenhalten sollte.

Angela Merkel: Orientierung an der «Mitte»

Um die Jahrtausendwende deutet vieles darauf hin, als könnten sozialdemokratische Parteien durch die Übernahme marktwirtschaftlicher Prinzipien einen «Dritten Weg» (Tony Blair) beschreiten und damit eine dominante Position in der «Neuen Mitte» (Gerhard Schröder) einnehmen. Nachdem sich Angela Merkel im Zuge der CDU-Parteispendenaffäre des Übervaters Helmut Kohl entledigt hatte, vertrat sie zunächst Positionen, die im Wesentlichen die Präferenzen der Parteibasis repräsentierten: marktwirtschaftliche Reformen, Skepsis gegenüber Einwanderung, Unterstützung der amerikanischen Invasion im Irak, usw. Damit konnte sie zwar die Basis für sich gewinnen, doch waren diese Positionen in der Bevölkerung nicht länger mehrheitsfähig, wodurch es Gerhard Schröder nach einem fulminanten Wahlkampf um ein Haar gelang, ihr den sichergeglaubten Sieg in der Bundestagswahl 2005 zu entreissen.

 

 

 

 

Auch nach dreissig Jahren in höchsten politischen Ämtern ist nicht ein einziger potentieller Skandal ruchbar geworden.

 

 

 

Daraus zog sie die Konsequenzen, orientierte sich forthin an der Mitte und zeigte keine Scheu, sich vormals sozialdemokratische oder grüne Positionen zu eigen zu machen. Damit vollzog sie im Wesentlichen den fortlaufenden gesellschaftlichen Wandel nach. In von Krisen und Volatilitäten geprägten Zeiten prägte und lebte sie einen unaufgeregten, konsens- und lösungsorientierten Politikstil. Auch nach dreissig Jahren in höchsten politischen Ämtern ist nicht ein einziger potentieller Skandal ruchbar geworden. Mit ihrem Wirken und ihrer Ausstrahlung erhöhte sie die Attraktivität ihrer Partei – insbesondere unter Jüngeren und Frauen, die in der CDU stark unterrepräsentiert sind.

Doch so sehr Merkel damit das Wählerpotential ihrer Partei erweiterte, war sie nicht willens oder in der Lage, deren Basis auf diesem Weg mitzunehmen. Die Wahlerfolge kaschierten wachsenden Unmut, der erst im Zuge ihrer Flüchtlingspolitik ab 2015 offen ausbrach, obschon sie auch in dieser Angelegenheit die deutliche Mehrheit der Bevölkerung hinter sich wusste. Unschlüssig, ob sie 2017 noch einmal antreten sollte, erweckte ihre letzte Amtszeit den Eindruck zunehmender Ermattung – selbst als in der Pandemie praktisch alle anderen Verantwortungsträger strategische Weitsicht und eine sichere Hand vermissen liessen.

Sebastian Kurz inszeniert sich als Antagonist von Merkel

Deswegen schauten nicht wenige in der CDU, insbesondere in der Jungen Union, nach Österreich. Dort hat Sebastian Kurz seinen Aufstieg als Antagonist Merkels inszeniert. Seine Partei, die ÖVP, war in ihrer Rolle als Juniorpartner in einer Koalition mit der SPÖ gefangen, während sie auf der rechten Seite des Parteienspektrums von der FPÖ überflügelt wurde. Sie als moderne politische Bewegung rechts der Mitte neu zu positionieren, erwies sich als erfolgreicher Schachzug. Gelegenheit dafür bot die sogenannte Flüchtlingskrise 2015. Kurz liess sich inszenieren, als habe er die Balkan-Route geschlossen und versuchte letztlich, fremdenfeindliche Positionen der FPÖ in etwas feinere Verpackungen gewickelt zu übernehmen. Der Kontrast der Neuen Volkspartei zur biederen alten ÖVP, einer Partei der Honoratioren, Bünde und Seilschaften, war offensichtlich und das Versprechen, mit dem alten Klientelismus und der Hinterzimmerpolitik aufzuhören auch für solche Wähler attraktiv, die wenig Schnittmengen mit der Volkspartei hatten.

Der Fokus auf Migrationspolitik war einerseits erfolgreich, als Teile der Politik und der Medien die aus der Zuwanderung resultierenden Herausforderungen nicht aufgriffen, während die populistische und fremdenfeindliche FPÖ für weite Teile der Bevölkerung nicht satisfaktionsfähig war. Andererseits zeigte sich gerade in diesem Bereich, dass Kurz’ Fokus auf der Betonung von Problemen lag, nicht aber auf deren Lösung. So blieb neben Schall und Rauch nicht viel mehr als Symbolpolitik. Die Schliessung der Balkan-Route gelang letztlich Merkel mit ihrem Übereinkommen mit der Türkei vom März 2016.

Kurz mag durchaus, ganz in der Tradition Wolfgang Schüssels, eine Koalition mit der FPÖ eingegangen sein, in der Hoffnung, diese in der Regierungsverantwortung zu entzaubern. Aus der Vergangenheit lassen sich verschiedene Beispiele anführen, wie populistische Positionen an den Anforderungen einer komplexen Realität zerschellten. Doch diese Rechnung ging aus verschiedenen Gründen nicht auf. Einerseits schaffen Populisten oder Demagogen heute ihre eigene Realität – meist über ihre eigenen Kanäle oder Social Media. Das Extrembeispiel ist sicherlich Donald Trumps Suggestion einer manipulierten Wahl, der inzwischen zwei Drittel der Gefolgschaft der Republikaner erlegen sind. Seine Argumente waren haltlos und deren Präsentation teils dilettantisch, aber unter seinen Anhängern hat sie sich durchgesetzt und nicht einmal der Sturm auf das Kapitol konnte sie davon abbringen. Soweit ist es in Österreich noch nicht, aber auch die Ibiza-Affäre hat das Ansehen der FPÖ unter ihrer Gefolgschaft nicht nachhaltig geschwächt. Als ihr Vorsitzender Kickl gegen jede Vernunft ein Pferdeentwurmungsmittel als Medizin gegen Covid propagierte, war dieses in kürzester Zeit ausverkauft. Unter solchen Umständen ist eine Strategie der Entzauberung wenig zielführend.

 

 

 

 

Sebastian Kurz hat dem rechten Populismus keine ernsthafte Sachpolitik entgegengestellt und stattdessen weitgehend Symbolpolitik betrieben.

 

 

 

Symbolpolitik statt ernsthafter Sachpolitik

Andererseits hat Kurz aber dem rechten Populismus keine ernsthafte Sachpolitik entgegengestellt und stattdessen weitgehend Symbolpolitik betrieben. Ein besonders tragisches Resultat davon ist das Attentat in Wien vom 2. November 2020. Slowakische Dienste hatten ihre österreichischen Kollegen vor dem Täter gewarnt, doch diese waren aufgrund interner Konflikte während der ÖVP/FPÖ Koalition nur vermindert funktionsfähig und zudem mit der Vorbereitung einer öffentlichkeitswirksamen Razzia gegen den «Politischen Islam» absorbiert. Dieses Versagen unter der Führung des damaligen Innenministers und heutigen Kanzlers Nehammer kostete mehrere Menschenleben und Dutzende Verletzte. Selbstverständlich ist die mangelnde Integration vor allem von Migranten aus muslimisch dominierten Staaten eine Herausforderung. Doch muss dies durch eine strategische Inklusionspolitik gelöst werden, nicht durch medienwirksame Symbolpolitik und Ausgrenzung.

Weitere Beispiele dilettantischer Sachpolitik liessen sich nennen, so etwa das «Kaufhaus Österreich», einen völlig unzureichendem und sofort wieder eingestellten Versuch, eine nationale digitale Infrastruktur als Konkurrenz zu Amazon aufzubauen. Den absoluten Tiefpunkt stellt Kurz’ Coronapolitik dar, die sich an Umfragen, statt an wissenschaftlicher Evidenz orientierte. Da Kurz die Pandemie im Frühsommer für beendet erklärte, weigerte man sich, Massnahmen zu ergreifen, selbst als die Infektionszahlen explodierten – auch hier eine Politik, die Menschenleben kostete.

Im Ergebnis hat die Aufdeckung unehrenhafter, möglicherweise auch krimineller Machenschaften Kurz’ Karriere beendet. Sie stehen im Widerspruch zur Integrität und dem normativen Kompass, die christ-demokratische Politiker gerne für sich in Anspruch nehmen – und die doch kaum jemand derart exemplarisch verkörpert hat wie Angela Merkel. Schliesslich waren es Korruptions- oder Parteispendenaffären, in deren Mittelpunkt Helmut Kohl oder Nicolas Sarkozy standen. Die «Democrazia Cristiana» hatte die italienische Politik der Nachkriegszeit geprägt, nur um vom «mani pulite» Skandal hinweggefegt zu werden. In diese Tradition wird sich auch Kurz einreihen müssen – ohne etwa Kohls Verdienste auch nur im Ansatz erreicht zu haben.

Doch zurück zur Ausgangsfrage: Welche Funktion, welche Perspektiven haben christ-demokratische Parteien noch? Werden sie noch gebraucht? Die Antwort darauf hängt natürlich davon ab, wie sie sich ausrichten. Mit einem ethno-religiöser Nationalismus, wie er von Viktor Orban oder Jaroslav Kaczinsky (ebenso Benjamin Netanyahu, Nahindra Modi oder Jair Bolsonaro) vertreten wird, kann vielleicht eine Minderheit mobilisiert werden. Indes führt eine solche Stossrichtung zwangsläufig zu einer Spaltung der Gesellschaft. Wie das Beispiel Kurz zeigt, ändert daran auch eine etwas attraktivere Verpackung nichts.

 

 

 

 

Im Zentrum christ-demokratischer Politik müsste das Gestalten des Spannungsfeldes zwischen Herkunft und Zukunft, Tradition und Wandel liegen.

 

 

 

Verbinden, statt Spalten

Verbinden, statt Spalten: Im Zentrum christ-demokratischer Politik müsste das Gestalten des Spannungsfeldes zwischen Herkunft und Zukunft, Tradition und Wandel liegen. Im Gegensatz zu Traditionalisten oder Reaktionären, die jeden Wandel ablehnen oder sich nach einer idealisierten Vergangenheit zurücksehnen, sollte es das Anliegen sein, den technologischen und gesellschaftlichen Wandel gemeinwohlverträglich zu gestalten. Es gilt, soziale, ökonomische und ökologische Anliegen zu einem Ausgleich zu bringen. Marktgläubigkeit und technokratische Machbarkeitseuphorie sind ebenso schlechte Ratgeber wie Ökofundamentalismus. Stattdessen basiert ein solches Programm auf den Prinzipien christlicher Ethik. Die Wahrung der Schöpfung und der Respekt der Mitmenschen lässt sich auch in einem weltlichen Kontext realisieren. Die Massgaben der Solidarität und Subsidiarität wären Leitlinien eines solchen Programmes. Die Einsicht menschlicher Fehlbarkeit lässt Demut und eine gesunde Skepsis gegenüber hochtrabenden Plänen angebracht erscheinen.

Patriotismus in einer diversen Gesellschaft

Christ-demokratische Parteien haben sich grosse Verdienste erworben, einen Patriotismus zu entwerfen, der den Nationalstaat in der europäischen Integration einbettet, ihn aber nicht darin aufgehen lässt. Einen solchen Patriotismus zu gestalten, der in einer diversen Gesellschaft Halt bieten kann, sollte zu einem Anliegen christ-demokratischer Politik werden. Dabei hilft nicht der Bezug auf eine idealisierte Vergangenheit, sondern das Bewusstsein um eine geteilte Verantwortung für die Zukunft. Das bedeutet, Abschied zu nehmen von Vorstellungen einer vermeintlichen Leitkultur, die angesichts realer Vielfalt überkommen sind. Diese Vielfalt anzuerkennen und sie zu gestalten, verliert sich nicht in leerem Relativismus. Auf der Basis wechselseitigen Respekts können Verständnis für andere Positionen hergestellt und ein Interessenausgleich zur Förderung des Gemeinwesens ermöglicht werden. Ein solches Antidot gegen Identitätspolitik von rechts wie von links ist dringend notwendig, um einer weiteren Polarisierung entgegenzutreten. An die Tradition christ-demokratischer Parteien, verschiedene Flügel unter einem Dach zu vereinen, lässt sich dabei anknüpfen.

Wenn zwischen gegenläufigen Interessen vermittelt und eine Balance gesucht werden soll, bietet dies in der medialen Wahrnehmung Angriffspunkte. Es bedarf Kompromisse, um soziale, ökonomische und ökologische Aspekte unter einen Hut zu bringen. Die Vertreter einer «reinen Lehre» oder «klaren Kante» müssen sich damit nicht auseinandersetzen. Doch entziehen sie sich damit ihrer geteilten Verantwortung für das Gemeinwesen. Gerade wenn man sich auf christliche Ethik bezieht, stellt dies keine Option dar.

Verbinden, statt Spalten: Dafür spricht auch die demoskopische Perspektive. Angela Merkel gelang es mit einer Politik moderierter gesellschaftlicher Modernisierung, Wählergruppen anzusprechen, die in der männlich dominierten und überalterten CDU unterrepräsentiert sind. Damit erreichte man das grösste Wählerpotential aller Parteien. Dieses gewonnene Terrain ging an der letzten Bundestagswahl an SPD und Grüne verloren. Bundeskanzler Scholz präsentierte sich im Wahlkampf explizit als idealer Nachfolger Merkels – inhaltlich wie im Auftritt, bis hin zur Übernahme ihrer Körpersprache. Neben dem enttäuschenden Kandidaten Laschet ist eine strategische Fehleinschätzung für die Niederlage verantwortlich. Der Versuch, konservative Wähler anzusprechen, erwies sich als Bumerang. Warum lässt man die kompetente Bildungspolitikerin Karin Prien über Gendersternchen reden, statt über ihren bemerkenswerten Leistungsausweis und bildungspolitische Perspektiven? Die fehlende Abgrenzung von der rechten Splittergruppe «Werte Union» und dem Direktkandidaten Hans-Georg Maassen kam noch hinzu.

 

 

 

 

Christ-demokratische Parteien sind keine Volksparteien mehr, weswegen die Präferenzen der Mitglieder und der potentiellen Wähler nicht mehr kongruent sind. Orientieren sie sich zu sehr an ihren Mitgliedern, verlieren sie an der Urne. Maximieren sie ihr Wählerpotential, laufen sie Gefahr, Mitglieder zu vergrätzen.

 

 

 

Präferenzen von Mitgliedern vs. Wählerinnen und Wählern

Doch damit ist bereits ein strategisches Paradox der CDU angesprochen, das für andere Christ-demokratische Parteien ganz ähnlich zutrifft. Sie sind keine Volksparteien mehr, weswegen die Präferenzen der Mitglieder und der potentiellen Wähler nicht mehr kongruent sind. Orientieren sie sich zu sehr an ihren Mitgliedern, verlieren sie an der Urne. Maximieren sie ihr Wählerpotential, laufen sie Gefahr, Mitglieder zu vergrätzen. Vielleicht fiel es Angela Merkel leichter, auf eine breite Mitte zu zielen, weil sie selbst nicht in den traditionellen Parteimilieus verankert war.

Diesem Paradox stellten sich vor gut 40 Jahren u.a. Rita Süssmuth, Kurt Biedenkopf und Heiner Geissler, deren Anliegen es war, die CDU intellektuell und strukturell zu erneuern. Ihnen gelang es, Themenführerschaft in verschiedenen Politikbereichen zu erlangen und ein Spektrum abzudecken, das von konservativen Hardlinern wie Alfred Dregger über Norbert Blüm, dem sozialen Gewissen der Union bis hin zu Klaus Töpfer, einem der ersten auch international profilierten Umweltpolitiker reichte. Sie schafften dies, indem sie die Partei nicht auf die Bewahrung der Vergangenheit, sondern auf die Gestaltung der Zukunft ausrichteten

Friedrich Merz muss CDU in die Zukunft führen

Nun liegt es an Friedrich Merz, die CDU in die Zukunft zu führen. Das Kurz’sche Modell ist als Alternative diskreditiert. Auch Merz muss sich dem Paradox stellen, dass er der Parteibasis gefallen, sich aber auch von dieser emanzipieren muss. Dabei gereicht ihm sein deutliches Mandat durch die Mitgliederbefragung zum Vorteil. Auch wenn es im Wesentlichen auf seiner Fähigkeit, die Parteiseele zu wärmen, beruhte, gibt es ihm weiten Handlungsspielraum. Niemand wird ihm den Vorwurf machen, die Ideale der Partei zu verraten, selbst wenn er sie weiter konsequent in die Mitte führte.

Man sollte Merz als intelligent genug einschätzen, zu wissen, dass es keine Rückkehr in die Zeit vor Merkel gibt – auch wenn nicht wenige seiner Unterstützer genau dies anstreben. Dies würde die CDU nur marginalisieren. Genau das versucht natürlich die Ampelkoalition – nicht nur inhaltlich, sondern auch symbolisch, wie die neue Sitzordnung neben der AfD im Bundestag ausweist. Sie strebt an, die mit Angela Merkels Rückzug verwaiste Mitte zu besetzen. Doch wird dies den drei Regierungspartnern nur gelingen, wenn ihren hehren Worten auch vernünftige Politik folgt. Man hat – vielleicht im Überschwang – die Latte selbst sehr hochgelegt und muss sich daran messen lassen.

Merz darf sich nicht dazu verleiten lassen, mit billiger Polemik – der er nur zu gerne zuspricht – oder Symbolpolitik der Parteibasis zu gefallen. Mit Genderkritik allein ist kein Sternchen zu gewinnen. Gelingt es ihm indes, nicht nur die Ampelkoalition zu entzaubern, sondern dabei selbst Perspektiven einer reflektierten, zukunftsweisenden Realpolitik aufzuzeigen, hat er eine gute Chance. Eine Realpolitik, gemessen an den Herausforderungen und den Möglichkeiten, die sich darin aber nicht erschöpft. Reflektiert, weil zum Beispiel Sicherheits- und Menschenrechtspolitik, Energiesicherheit und Klimapolitik in einen sozialverträglichen Ausgleich gebracht werden müssen. Merz müsste Merkels Erbe annehmen. Doch wird es ihm gelingen, über seinen Schatten zu springen?

Dr. Andreas Böhm ist Direktor am Center for Philanthropy der Universität St.Gallen.

Bild: Adobe Stock / Electric Egg Ltd.

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