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Meinungen - 08.11.2019 - 00:00 

Die ostdeutsche Lebenshaltung 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer

Die Berliner Mauer ist schon länger wieder weg, als sie jemals stand. Macht die Einsicht in die Wandelbarkeit gesellschaftlicher Strukturen robuster? Hilft sie, Umbrüchen souveräner entgegenzutreten? HSG-Dozent und Gemeinwohl-Forscher Timo Meynhardt über ostdeutschen Pragmatismus und eine gesunde Utopie-Skepsis in Zeiten digitalen Wandels.
Source: HSG Newsroom

8. November 2019. Zum 30. Mal jährt sich am 9. November jene denkwürdige Pressekonferenz zum DDR-Reisegesetz. Günter Schabowski, ein damaliges SED-Politbüromitglied, kommentierte das Eintreten des neuen Gesetzes mit den holprigen Worten: «Das trifft nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich». Mit diesem Satz leitete er völlig unbeabsichtigt den Fall der Berliner Mauer ein. Der Rest der Geschichte ist bekannt: Am 3. Oktober 1990 trat die DDR offiziell der Bundesrepublik Deutschland bei. Seither läuft das soziale Grossexperiment der deutschen Wiedervereinigung. Kaum eine Facette des Alltagslebens der ostdeutschen Bevölkerung blieb davon unberührt. Das Wirtschaftssystem, das Rechtssystem, das Bildungssystem, das Sozialsystem usw. wurden im Wesentlichen der bundesrepublikanischen Wirklichkeit angeglichen. Diese gesellschaftliche Transformation erfasste jeden Einzelnen, jede Familie und wirkte nachhaltig auf sämtliche Formen von Gemeinschaft und Gemeinschaftserleben.

Die Berliner Mauer ist schon länger wieder weg, als sie jemals stand. Der Angleichungsprozess ist gut vorangekommen, die Bilanz ist eindeutig positiv. Die neuen Bundesländer knüpfen mittlerweile wieder an ihre über die Jahrhunderte gewachsenen kulturellen Traditionen und Stärken an. In Umfang und Ausmass ist dieser Prozess in der Weltgeschichte wohl bisher einmalig. Nicht umsonst interessieren sich nun auch andere – insbesondere Fachleute aus Südkorea – für die Gestaltung solcher Prozesse.

Ostdeutsche «Eigenheiten»

Weder verlaufen diese geräuschlos und ohne Konflikte, noch entwickelt sich der Osten einfach zum besseren Westen. Die mentalen Verhältnisse dort liegen anders und sind auch nicht einfach als regionale Besonderheiten wie zwischen Nord- und Süddeutschland abzutun. Es geht um mehr und anderes, wenn man die Ostdeutschen und ihren Einfluss auf die Entwicklung der Bundesrepublik verstehen möchte. Natürlich kann man auch bei den Ostdeutschen nicht von einer homogenen Gruppe sprechen. Allein die Generationenunterschiede bedingen ganz unterschiedliche Erfahrungshorizonte. Interessant sind allemal dort immer wieder anzutreffende Denkhaltungen, die auch für Dritte beobachtbar wurden und erhellenden Charakter haben, wenn man die ostdeutschen «Eigenheiten» verstehen möchte.

Die Ostdeutschen bringen in das wiedervereinte Deutschland ganz offenkundig kollektiv verankerte Einstellungen und Werte mit Zukunftspotenzial ein – seien es die Erfahrungen in der DDR zum Umgang mit Eigentum (Enteignung, Volkseigentum, Rückgabe vor Entschädigung), aber auch in der Kindererziehung oder dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Zu diesen Vorteilen durch Erfahrung gehört auch das tiefe Verständnis osteuropäischer Mentalität und Geschichte.

 

 

 

 

Der am eigenen Leib erfahrene Visionszusammenbruch und die erlebte Vergänglichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse schwächen jeden unhaltbaren Fortschrittsoptimismus und stärken umgekehrt den Blick für das Unvorhersehbare und die unmittelbare Gegenwart.

 

 

 

 

 

Timo Meynhardt

 

 

 

 

Skepsis gegenüber Utopien und gesellschaftlichen Visionen

Die wesentlichste zukunftsweisende Erfahrung liegt aber vermutlich noch an anderer Stelle und wurde überhaupt erst durch den Systemwechsel selbst ermöglicht. Es ist die kollektive Erfahrung, wie wenig aussichtsreich, ja gefährlich es sein kann, die Welt von einer fernen Zukunft her zu denken, sich einem grösseren Plan zu verschreiben oder einer wie auch immer gearteten Utopie hinterherzulaufen. Oder andersherum: Der am eigenen Leib erfahrene Visionszusammenbruch und die erlebte Vergänglichkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse schwächen jeden unhaltbaren Fortschrittsoptimismus und stärken umgekehrt den Blick für das Unvorhersehbare und die unmittelbare Gegenwart. Zukunftsversprechen werden als wenig attraktiv oder gar hohl dekonstruiert.

Die Apologeten von Visionen verweisen gern auf die motivierende Kraft von Entwürfen, die gemeinsame Zielausrichtung, auf die «Sehnsucht nach dem Meer», ohne die nichts Neues entsteht. Die Ostdeutschen sind hier – ich möchte es so formulieren – einen Schritt weiter: Sie wissen um die unvermeidlich vergebliche Ausrichtung an gesellschaftlichen Visionen. Die Zukunft ist ihnen nicht vergangen, weil sie keine Erwartungen mehr haben, sondern weil sie diese in der Gegenwart zu realisieren suchen. Das Leben in der DDR hat in diesem Sinne die «geschichtliche Zeiterfahrung» (Koselleck) verändert.

So wie den Ostdeutschen in 40 DDR-Jahren ein gesetzmässiger Verlauf der Geschichte suggeriert wurde, ist nun die Erkenntnis gewachsen, wie wenig vorhersagbar die geschichtliche Entwicklung ist. Denn: Jede gesellschaftliche Utopie wird am Menschen scheitern müssen, weil sie in ihrer Verallgemeinerung den Eigensinn und menschliche Schwächen notwendig negieren muss. Es ist dieser durch Erfahrung klug gewordene Realismus, der sensibel und aufmerksam macht für die Verletzbarkeiten in einem Gemeinwesen und zu einem Pragmatismus führt, der sich ganz unideologisch auf das Machbare im Hier und Jetzt konzentriert.

Realität des Augenblicks und existentialistische Lebenshaltung

Um nicht falsch verstanden zu werden: Damit ist nicht gemeint, den Zustand der Welt fatalistisch anzunehmen und sich einem unvermeidlichen Schicksal zu fügen. Nein, die utopische Energie richtet sich mit aller Kraft auf die unmittelbare Gegenwart, weil nur diese wirklich gestaltbar ist. Darin zeigt sich eine Vision neuen Typs, die sich pragmatisch an Idealen orientiert, die den Menschen annehmen wie er ist und nicht wie er sein könnte. Diese Gegenwartsvision, eine Art visionslose Vision, ist nicht zukunftsvergessen und gegenwartsversessen, sondern stellt sich der Realität des Augenblicks. In dieser Achtsamkeit für die Gegenwart steckt ein Zukunftsgedanke, der sich am Machbaren orientiert. Der daraus entstandene Mentalitätsfaktor scheint mir eine der wesentlichsten, bisher noch zu wenig erkannten oder gar genutzten kollektiven Stärken in Ostdeutschland zu sein.

Diese Denk- und Lebenshaltung trägt einen durchaus existenzialistischen Zug, ganz im Duktus des französischen Existenzialismus: So wie der Einzelne sich erst und nur aus seiner subjektiven Empfindung erfährt («Der Mensch ist seine Existenz.»), ist diese durch das wandelbare soziale Umfeld geprägt. Wenn sich aber Letzteres in seinen Grundstrukturen so radikal ändert und als immer wieder wandelbar erscheint, wird der Blick frei, für die überdauernden menschlichen Konstanten und existenziellen Herausforderungen des Lebens, die durch kein Gesellschaftssystem bewältigt werden können. Man könnte sogar von einem sozialen Existenzialismus sprechen. Existenziell, weil den notwendigen Selbstentwurf und die Freiheit betonend. Sozial, weil die Wandelbarkeit der Verhältnisse akzeptierend, unter denen das Individuum sich entwickeln muss.

Einsicht in die Zerbrechlichkeit gesellschaftlicher Strukturen

Eine Befreiung aus den Vorgaben durch andere und vor allem auch eine Einsicht in die Fragilität gesellschaftlicher Strukturen wirft den Einzelnen in aller Härte auf sich und seine Möglichkeiten zurück. Daraus erwächst die angedeutete Kraft des Pragmatismus, der sich in einer konkreten Situation immer wieder neu zu bewähren hat. Nicht die grosse Vision, sondern der im Gehen entstehende Weg ist das Ziel. Dies wirkt auf Aussenstehende gelegentlich planlos, ist aber mehr denn je ein probates Mittel in einer immer weniger überschaubaren Welt. Zumindest schlagen uns das die modernen Ansätze von Komplexitäts- und Chaostheorie so vor.

Hinter dieser Form des ostdeutschen Pragmatismus steht das Erfahrungswissen um die Wandelbarkeit der Umstände, unter denen ein Gemeinwesen sich entwickelt. Von diesem Es-könnte-auch-anders-sein-Standpunkt wird schneller sichtbar, was Schauspiel und Fassade, was wirklich grundlegend ist. In der Negativvariante folgen daraus Ablehnung und Abwendung von der unmittelbaren Erfahrungswelt und ein Orientierungsverlust. In der Positivvariante entsteht hingegen eine Energiequelle für kreative Lösungen und neue Ansätze. Der andere, der östliche Blick, birgt – und das ist mein Punkt – ein Innovationspotenzial für gesellschaftliche Entwicklungen, bei dem ein Sinn für die Gefährdungen des Gemeinwesens ganz oben steht.

 

 

 

 

Der östliche Blick birgt ein Innovationspotenzial für gesellschaftliche Entwicklungen, bei dem ein Sinn für die Gefährdungen des Gemeinwesens ganz oben steht

 

 

 

 

 

Timo Meynhardt

 

 

 

 

Denkhaltung aus der Defensive: Reaktionen des Westens

Um diese Denkhaltung auch intellektuell produktiv werden zu lassen, braucht es heute – 30 Jahre nach dem Mauerfall – auch eine Überwindung der intellektuellen Siegermentalität führender Denker der alten Bundesrepublik. Beispielhaft sei hier der Philosoph Jürgen Habermas genannt, der in den frühen 1990er Jahren erst einmal mit grosser Geste kein gutes Haar an der DDR-Erfahrung gelassen hat: «Dieser Arbeiter- und Bauernstaat hat mit seiner politischen Rhetorik fortschrittliche Ideen zu seiner Legitimation missbraucht; er hat sie durch eine unmenschliche Praxis höhnisch dementiert und dadurch in Misskredit gebracht. Ich fürchte, dass diese Dialektik der Entwertung für die geistige Hygiene in Deutschland ruinöser sein wird als das geballte Ressentiment von fünf, sechs, Generationen gegenaufklärerischer, antisemitischer, falsch romantischer, deutschtümelnder Obskurantisten.»

Härter kann man kaum texten. Von diesem Satz konnte er auch trotz massiver Kritik von prominenten Persönlichkeiten nicht lassen. Er war sich auch nicht zu schade, sogar den in der DDR praktizierten Antifaschismus als eine Ursache der wieder erstarkenden intellektuellen Rechten zu markieren. Schon damals war klar, wie weit Habermas und andere danebenlagen und nicht zu den ostdeutschen Eigenheiten vorgedrungen sind. Sie hatten verständlicherweise auch mehr mit sich selbst und der alten Bundesrepublik zu tun.

Es kommt mir so vor, als ob Vordenker wie Habermas die mühsam erkämpfte demokratische Ordnung der Bundesrepublik mit ihrer auch intellektuellen Westbindung mit Verve zu verteidigen suchten, wohl ahnend, dass auch diese nicht mehr dieselbe sein wird. Schliesslich sah er und viele andere die Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung «auf dem guten Weg zu einer modernen demokratischen Gesellschaft mit verstärkter politischer Partizipation».

Gemeinsam nach vorn denken

Jetzt ist es an der Zeit, wieder gemeinsam nach vorn zu denken. Die ostdeutsche Erfahrung eines Systemwechsels und die daraus erwachsene Wertschätzung für die Errungenschaften der Bundesrepublik (z.B. für das Grundgesetz) sind dabei ein intellektuelles Pfund, mit dem sich wuchern lässt. Es ist sogar zu erwarten, dass der östliche Blick etwas sein wird, was die Bundesrepublik Deutschland gut gebrauchen kann auf dem Weg durch das 21. Jahrhundert, in dem nicht mehr so klar ist, wohin die Lokomotiven des gesellschaftlichen Fortschritts fahren. Gut, wenn jemand weiss, dass man jeden Zug auch anhalten und die Lok, aber nicht die Passagiere austauschen kann.

Timo Meynhardt ist ein deutscher Psychologe und Betriebswirtschaftler. Er wuchs in der DDR auf und erlebte den Mauerfall aus Ostsicht. Heute ist er Managing Director des Center for Leadership and Values in Society an der Universität St.Gallen (CLVS-HSG). Von 2013 bis 2015 war er Inhaber des Lehrstuhls für Management an der Leuphana Universität Lüneburg. Seit Oktober 2015 ist Timo Meynhardt Inhaber des Arend Oetker-Lehrstuhls für Wirtschaftspsychologie und Führung an der Graduate School of Management der privaten Handelshochschule Leipzig.

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