Meinungen - 06.07.2020 - 00:00 

Wo sind die Roboter?

Wo sind die Roboter während der COVID-19-Krise geblieben? Ein Meinungsstück von J. Jesse Ramírez, Assistenzprofessor für American Studies und Ko-Koordinator des Fokusbereichs Technologien an der HSG.
Quelle: HSG Newsroom

6. Juli 2020. Seit rund einem Jahrzehnt hören wir Gerüchte, dass eine neue Generation von automatisierten Technologien gelernt hat, unsere Arbeit zu erledigen. Wenn diese Technologieprophezeiungen wahr wären, hätten Roboter und Algorithmen bereit sein sollen, während des Lockdowns einzugreifen, um endlich zu beweisen, dass sie sicherer, billiger und effizienter arbeiten können als wir. Doch als COVID-19 die Bühne für die Automatisierung frei machte, traten die Menschen ins Rampenlicht. Roboter haben keine Patienten gepflegt, keine Regale in Lebensmittelgeschäften aufgefüllt, keine Mahlzeiten gekocht und serviert und keine Pakete ausgeliefert. Sie haben weder Toiletten desinfiziert noch Busse gefahren oder Studenten ausgebildet.

Jetzt, wo die Lockdowns enden, dürfen wir nicht vergessen, dass es in der heutigen Krise nicht um Automatisierung geht. Es geht darum, wie wir die Menschen, deren Arbeit die Welt erhält, schätzen und schützen.

Seit der Weltwirtschaftskrise, als sich die technologische Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten zu einem weit verbreiteten sozialen Problem kristallisierte, haben sich viele Amerikaner gefragt, ob Maschinen Arbeitnehmer überflüssig machen werden. Obwohl es um die Automatisierungsdebatte während Kriegen und in Hochkonjunkturzeiten still wird, ist sie in Wirtschaftskrisen immer bereit reaktiviert zu werden. Die jüngste Phase der Debatte begann nach dem Finanzcrash 2008, als Wirtschaftsfuturisten behaupteten, dass Fortschritte in der Robotik, der künstlichen Intelligenz und Big Data für das schwache Beschäftigungswachstum während des Aufschwungs verantwortlich seien. In einer viel zitierten Studie aus dem Jahr 2013 kamen zwei Forscher aus Oxford zu dem Schluss, dass sich satte 47% der gesamten US-Arbeitsplätze, speziell im Dienstleistungs-, Transport- und Vertriebssektor, im Visier der Roboter befanden. Andere, darunter der ehemalige Präsidentschaftskandidat der Demokraten von 2020, Andrew Yang, plädierten für ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE), um die unvermeidlichen Arbeitsplatzverluste auszugleichen.

Automatisierungsprognose

Yang hat inzwischen seine Kurzsichtigkeit eingestanden: «Anstatt über Automatisierung zu sprechen, hätte ich über eine Pandemie sprechen sollen.» Die von Yang und andere Automatisierungsprognostiker prophezeite Job-Apokalypse ist aber eingetroffen, denn Dutzende Millionen Amerikaner sind arbeitslos. Konjunkturprogramme und zusätzliche Arbeitslosenzahlungen ähneln in gewisser Weise dem BGE. Aber die Automatisierung ist nicht der Verursacher. Auf der Angebotsseite haben Arbeitsplatzschliessungen, Reisebeschränkungen, Quarantänen und soziale Distanzierung zu einem Rückgang der Arbeitszeiten geführt, der einem staatlich erzwungenen Generalstreik ähnelt. Auf der Nachfrageseite ähneln die Lockdowns einem Massenkonsumboykott, der den Absatz und den Anstellungsgrad weiter senkte.

Die Technikpropheten versäumten es, diese Situation vorherzusehen; nicht nur, weil es schwierig ist, die Zukunft vorherzusagen, sondern weil sie zu sehr damit beschäftigt waren, Business-Science-Fiction als Tatsache zu tarnen. Als sie mit unbequemen Wahrheiten konfrontiert wurden, wie z.B. einem Türknauf, der die geschicktesten Roboter durcheinanderbrachte, oder einem selbstfahrenden Auto, das keine Fussgänger erkennen konnte, baten uns die Technikpropheten, uns vorzustellen, dass die Ingenieure bereits dabei seien, die Fehler zu beheben. Der springende Punkt ihrer Spekulationen ist, dass mehr Automatisierung unvermeidlich ist, weil Innovation eine unaufhaltsame Naturgewalt ist. Wie passend, dass sich diese Natur in Form eines Virus als die effektivere Disruption erwies. COVID-19 war nicht auf dem Radar der Technologiepropheten, weil diese, wie viele wirtschaftsfreundliche Denker, mehr an der Cleverness von Unternehmern und Ingenieuren interessiert waren, als an der Unterfinanzierung von Gesundheitsabteilungen und anderen öffentlichen Infrastrukturen, die zur Bekämpfung von Pandemien beitragen.

Unterschätzung der Arbeit

Vor allem aber unterschätzten die Technikpropheten Amerikas Krankenschwestern und Sanitäter, Kassierer und Zustellfahrer, Lebensmittelserver und Lagerarbeiter, Postbeamte und Reinigungskräfte. In einem provozierenden Essay von 2013 «Über das Phänomen der Bullshit-Jobs», der inzwischen zu einem Buch erweitert wurde, schlägt der Anthropologe David Graeber ein Gedankenexperiment gegen die Automatisierung vor: Stellen Sie sich vor, dass eines Tages die Menschen, deren Arbeit der Gesellschaft am deutlichsten zugutekommt, einfach verschwinden. «Es ist offensichtlich, dass die Ergebnisse unmittelbar und katastrophal wären, wenn sie in einer Rauchwolke verschwinden würden», bemerkt Graeber. In gewisser Weise zwang COVID-19 die staatlichen Regierungen, ein ähnliches Gedankenexperiment durchzuführen. Konfrontiert mit dem Ausfall der lebenserhaltenden Arbeit, nahmen sie die Arbeiter in Branchen wie dem Gesundheitswesen, dem Transportwesen, der Landwirtschaft, der Lebensmittelversorgung und der Abwasserentsorgung von den Lockdowns aus.

Die Technologiepropheten haben es verkehrt herum verstanden. Die Arbeiter, welche sie als technologisch überflüssig betrachten, sind die unentbehrlichsten; die Arbeiten, welche sie dachten, wären so einfach, dass sie sogar Maschinen erledigen können, sind unersetzbar.

Die Notlage der unentbehrlichen Arbeiter

Doch auch wenn die Krise ihren Wert für die Gesellschaft unterstrichen hat, bleiben Amerikas unverzichtbare Arbeitskräfte unterbezahlt. Viele arbeiten für Mindestlöhne; die grosse Mehrheit ist nicht gewerkschaftlich organisiert. In Lebensgefahr an Arbeitsplätzen, die mit unzureichender persönlicher Schutzausrüstung ausgestattet sind, werden sie positiv auf COVID-19 getestet und sterben. Sie sind repräsentativ für alle Amerikaner, aber es sind unverhältnismässig viele Frauen und Farbige aus der Arbeiterklasse.

Die Technikpropheten haben darauf mit einem Rebranding reagiert. In der Hoffnung, dass wir ihre fehlgeschlagenen Vorhersagen vergessen haben, geben sie Science-Fiction für die pure Magie des Zirkelschlusses auf. In einem kürzlich erschienenen Wirtschaftsbericht der New York Times wird behauptet, dass die soziale Distanzierung die Automatisierung beschleunigt. In einem geschickten Manöver werden Technologien die angeblich zu Massenarbeitslosigkeit führen, jetzt deren Lösung; die Ursache ist zur Wirkung geworden. Wenn Wirtschaftsfuturisten ihren technologischen Determinismus nicht durch die Vordertür der Geschichte bringen können, versuchen sie es, ihn durch die Hintertür zu schmuggeln, während sie all die alten Behauptungen über überflüssige Arbeitnehmer wiederverwerten.

Aber was wirklich überflüssig ist, ist der Automatisierungshype. Während wir die Art und Weise, wie wir leben und arbeiten, neu organisieren, ist es höchste Zeit, die Roboter als das zu erkennen, was sie sind: eine verpfuschte Hypothese darüber, wessen Arbeit wichtig ist und wessen Arbeit verschwinden soll. Roboter werden uns weder retten noch zerstören, denn sie können uns nicht die Arbeit abnehmen, eine gerechtere Welt aufzubauen. In dieser Welt werden wir die Menschen, deren Arbeit das Leben erhält, angemessen entschädigen, schützen und respektieren.

J. Jesse Ramírez ist Assistenzprofessor für Amerikastudien und Ko-Koordinator des Fokusbereichs Technologien an der Universität St. Gallen. Er ist Autor von «Against Automation Mythologies: Business Science Fiction and the Ruse of the Robots» (erschienen bei Routledge).

Foto: Adobe Stock / ipopba

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