Veranstaltungen - 04.05.2017 - 00:00 

«Wir müssen selbstkritisch für Meinungsfreiheit kämpfen»

An der diesjährigen «Max Schmidheiny Lecture» im Rahmen des St. Gallen Symposiums sprach der Historiker und Autor Timothy Garton Ash über Meinungsfreiheit und die Herausforderungen durch den Populismus. Eingeführt wurde Ash von HSG-Professor Christoph Frei.
Quelle: HSG Newsroom

5. Mai 2017. «Die digitale Revolution ist das wichtigste Beispiel für Disruption», begann Timothy Garton Ash seinen Vortrag, «durch Massenmigration und das Internet sind wir alle Nachbarn geworden.» Theoretisch könne die Hälfte der Menschheit direkt miteinander kommunizieren. Dies sei eine enorme Chance für die Meinungsfreiheit, berge jedoch gleichzeitig auch Risiken wie Überwachung, Mobbing und Hassreden. «Das Internet ist die grösste Kloake der Weltgeschichte», spitzte Ash zu. Meinungsfreiheit sei praktisch überall auf der Welt in Gefahr.

Von Hunden, Katzen und Mäusen

Timothy Garton Ash identifizierte vier Kräfte, die die Meinungsfreiheit massgeblich mitbestimmten. Neben grossen internationalen Organisationen und Verträgen seien dies Staaten («big dogs»), private Supermächte wie Google, Amazon oder Facebook («big cats») und wir, die Bürgerinnen und Bürger selbst («mice»). Doch auch gut organisierte Mäuse könnten auf die «big dogs» und «big cats» Einfluss nehmen, fügte Ash hinzu.

Als wichtigstes Prinzip der Meinungsfreiheit nannte Ash unzensierte, vielfältige und vertrauenswürdige Medien, die es erlaubten, Entscheidungen aufgrund seriöser Informationen zu treffen und so am politischen Leben teilzunehmen. Meinungsfreiheit bestehe dabei aus zwei Idealen, die auf die antiken griechischen Demokratievorstellungen zurückgingen: «Parrhesia bedeutet freie Rede mit guten Absichten zum Wohle der Gemeinschaft und nicht einfach zu sagen, was einem in den Sinn kommt», erklärte der Historiker, «mit dem zweiten Ideal, isegoria, ist die Gleichberechtigung gemeint, dass alle frei reden dürfen.»

Internet zerstört Geschäftsmodell der Medien

Ash diagnostizierte eine dramatische Fragmentierung dieser für die Demokratie notwendigen Medienlandschaft aufgrund der digitalen Revolution. Insbesondere Populisten nutzten die Möglichkeiten des Internets, um liberale Demokratien anzugreifen und zu schwächen. Anonymität begünstige verbale Gewalt im Netz und sogenannte «Echokammern» führten dazu, dass Menschen nur noch sähen und hörten, was ihre Meinung bestätige. «Ein weitere Gefahr ist der Wiederholungseffekt, den wir auch aus der Geschichte der Propaganda kennen», sagte Ash, «wenn Unwahrheiten lange genug vorgetragen werden, erhöht dies die Chance, dass sie auch geglaubt werden.» Zudem seien Menschen immer weniger dazu bereit, für gut recherchierte Nachrichten Geld auszugeben und beschränkten sich etwa auf ihren «newsfeed» bei Facebook, dessen Algorithmus bewusst nicht offengelegt werde.

Der Überlebenskampf vieler Zeitungen verschlimmere die Situation zusätzlich: «Was tun wir, wenn wir am Ertrinken sind? Wir schreien und winken.» Die Folge sei eine zunehmend oberflächliche, sensationslastige und parteiische Berichterstattung. «Fakten sind teuer.» Daher nahm Ash nicht nur die Medien, sondern alle liberalen Kräfte in die Pflicht: «Wir müssen selbstkritisch für Meinungsfreiheit kämpfen.»

Vereinfachende, emotionale Narrative

Als Hauptproblem sah Timothy Garton Ash weniger die «Fake news» selbst, sondern die stark vereinfachenden, emotionalen Narrative, wie wir sie beispielsweise aus den Wahlkämpfen in Frankreich, den USA oder in der Diskussion um den «Brexit» kennen. «Diese Narrative sind mächtig, weil sie eigentlich heterogene soziale Gruppen und Interessen zusammenbringen und zusammenhalten», sagte Ash und sprach von «Koalitionen der Unwilligen.» Emotionen und nicht Fakten spielten die entscheidende Rolle. Ash verwies auf die Diskussion in den USA, ob Barack Obama gebürtiger Amerikaner sei oder nicht. Selbst als Obama seine Geburtsurkunde vorgelegt habe, hätten viele Amerikaner ein anderes «Gefühl» gehabt.

Auf das Spannungsverhältnis zwischen Emotionalität und Vernunft ging auch Christoph Frei, Titularprofessor für Politikwissenschaft an der Universität St.Gallen, ein und fragte, ob Emotionen nicht immer zentraler Bestandteil von öffentlichen Diskursen und dem Zusammenhalt von Nationen seien. Timothy Garton Ash betonte, dass viele bedeutende Politiker Journalisten und Schriftsteller gewesen seien. So habe etwa Winston Churchill den Literaturnobelpreis gewonnen. «Er hat es verstanden, emotionale Geschichten basierend auf Fakten zu erzählen», sagte Ash. Heutzutage sei politische Sprache oftmals zu kühl und bürokratisch.

Im Publikum interessierte sich Martin Wolf von der «Financial Times» für die historischen Zusammenhänge und stellte die These der massiven Auswirkungen der digitalen Revolution in Frage. So habe es beispielsweise auch schon in den 1920er- und 30er-Jahren systematische Lügen, Propaganda und Falschinformationen gegeben. Ash betonte, es ergäben sich keine automatischen Konsequenzen aus den technologischen Entwicklungen, sondern vielmehr positive und negative Möglichkeiten. Ein weiterer Unterschied liege darin, dass es keine grossen Monopole mehr gebe: «Wir haben es mit unzähligen Plattformen und vielen kleinen Unwahrheiten zu tun. Es gibt nicht mehr den einen Big Brother

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