Leute - 09.11.2017 - 00:00 

Wie Technik unsere Lebenswelten bewegt

Ziel von Technologie ist, Gesellschaft und Natur zu kontrollieren. Dabei handhaben Personen in verschiedenen Lebenslagen eine Technologie aus nur ihrer eigenen Wirklichkeit. Technologie ist heute ein fester Bestandteil unserer Lebenswelten und ohne sie ist die Organisation von Gesellschaft undenkbar geworden. In seiner Doktorarbeit zeigt Tim Lehmann auf, dass die mannigfaltige Entwicklung von Technologie nie zu 100 Prozent gesteuert werden kann und die Gesellschaft mit in die Ingenieurswissenschaften eingeplant werden muss.
Quelle: HSG Newsroom

9. November 2017. Im Auftrag einer Schweizer Firma prüfte Tim Lehmann in einem Slum von Nairobi innovative Wassertechnologien. Die verborgene Wasserinfrastruktur in der ehemaligen Kolonialstadt faszinierte ihn, denn Unmengen von Wasser verschwinden und versickern in Nairobi. So setzte er sich in seiner Dissertation «Leaky matters: organizing water infrastructure in Nairobi» aus technik- und kulturwissenschaftlicher Perspektive mit der Organisation infrastruktureller Lebenswelten auseinander. Dafür war er acht Monate vor Ort, um zu erfahren wie das Wasserwerk in Nairobi mit dem Wasserschwund umgeht. Dabei war er immer auf der Suche nach dem Wasser.

Wasser – lebensnotwendig, Einkommen und auch Investition

«In Nairobi verschwindet Wasser. Jedoch ist das Wasser nicht verloren, irgendwo taucht es immer wieder auf.» Doch die verschiedenen involvierten Personen handhaben den Wasserschwund auf unterschiedliche Weise, in ihren unterschiedlichen Lebenswelten. «Der Manager des städtischen Wasserwerks fragt sich, wie der Wasserdruck ausgeglichen werden kann», sagt Tim Lehmann. «Für den lokalen Klempner ist der Wasserschwund eine bedeutende Einkommensquelle, für den Bürger ein versiegender Wasserhahn, für das Grundwasser ein Zufluss an im Boden versickerndem Wasser und der Weltbankökonom fragt sich, wie seine Investition in die Wasserinfrastruktur rentabel bleibt.»

Differenzen mit Kreativität überbrücken

Mit Hilfe von Bemessungen und Visualisierungen der Ingenieure folgt Tim Lehmann dem Wasser in Nairobi. «Wenn der Wasserhahn versiegt, entsteht eine Differenz zu der durch die Ingenieure geplanten Realität: ‹Jeden Haushalt in einer rapide wachsenden Stadt mit Wasser zu erschliessen›.» Diese Differenz, die «leaky matters», hätten die Bürgerinnen und Bürger von Nairobi mit Kreativität überbrückt, unter anderem dank zusätzlichen, den Bemessungen und Visualisierungen der Ingenieure entgangenen Rohren. «Die Ingenieure betrachten Nairobis Wasserinfrastruktur nach den Standards der im 19. Jahrhundert in England entwickelten Technologie», sagt Tim Lehmann. «Jedoch vergessen sie die lokale Geschichte der Technologie zu berücksichtigen. Eine politische Regulierung jagt die nächste. Die Technologie derweil macht was sie will.» So entstanden Differenzen, welche das Wasserwerk auch nicht durch ein mehr an zentraler Steuerung ersetzen könnte. «Ziel des Wasserwerks muss jetzt sein, das Problem von unten anzugehen, zu akzeptieren und zu lernen, dass die Bürgerinnen und Bürger ein beutender Teil dieses komplizierten Zusammenspiels an Technologie und Gesellschaft sind. Der überwiegende männliche Ingenieur kann nicht mehr als der alleinige Problemlöser gelten.»

Keine 100-prozentige Steuerung

Tim Lehmann hat das Wasser in Nairobi gefunden. Mit der Erkenntnis der unterschiedlichen «leaky matters» erhofft er sich, dass die Menschen sensibilisiert werden, dass alte und neue Technologien, von rostenden Stahlrohren bis zu GPS basierten Software-Applikationen, in der gesellschaftlichen Praxis nie zu 100 Prozent steuerbar sind. «Denn Technik wird sich nicht an jedem Ort genau gleich verhalten. Die lokale Gesellschaft inklusive ihres über die Zeit der Geschichte erlernten Umgangs mit Technik muss ebenfalls in die Technikwissenschaft einfliessen. Aber auch dann muss damit gerechnet werden, dass nicht geplante Aktionen, die ‹leaky matters›, passieren.»

north