Hintergrund - 02.06.2021 - 00:00 

Von der Corona- in die Mafia-Krise?

Die COVID-Pandemie ermöglicht die Etablierung der italienischen Mafiaorganisation ‘Ndrangheta unter anderem auch im Schweizer Wirtschaftssystem. Was sind die Gründe und Mechanismen dieser Entwicklungen? Ein Beitrag von Studentin Adina Trinca.
Quelle: HSG Newsroom

 

2. Juni 2021. «Im Windschatten historischer Ereignisse schlägt die Mafia zu», erklärte Mafiaexperte und Staatsanwalt Francesco Lo Voi im April 2020 gegenüber SRF. Die Mafia weiss, wie sie von Krisensituationen profitieren kann. Seit ihrer Entstehung in Italien in den 1860er Jahren nützt sie staatliche Lücken und wirtschaftliche Engpässe gezielt aus. Bereits im frühen 20. Jahrhundert begannen die verschiedenen italienischen Mafiaorganisationen ausserdem mit ihrer Expansion ins Ausland, unter anderem erreichten sie vor rund 40 Jahren auch die Schweiz.
 

Die ‘Ndrangheta ist momentan die stärkste und gefährlichste Mafia weltweit. Sie operiert erfolgreich in allen fünf Kontinenten. Dabei ist ihre lukrativste Aktivität der Drogenhandel mit den mexikanischen und kolumbianischen Drogenkartellen. Gemäss eines Analyseberichts des Europol verhalten sich Mafias jedoch im Ausland nicht gleich wie in ihrem Heimatland, da sie unauffälliger agieren und ausschliesslich wirtschaftliche Ziele wie Geldwäscherei verfolgen. Deshalb ist es schwer, ihre Präsenz zu erkennen und ihre Absichten und nächsten Schritte zu verstehen, geschweige denn vorauszusehen. Dies gilt vor allem für Staaten wie die Schweiz, die bis heute wenig Erfahrung mit organisierter Kriminalität haben. Dazu kommt, dass die Corona-Pandemie viele Unsicherheiten mit sich gebracht hat. Dies bietet der ‘Ndrangheta äusserst günstige Rahmenbedingungen, um sich in der Schweiz stärker zu verwurzeln. Welche Mechanismen stecken hinter diesen Entwicklungen?
 

Die Entstehung der ‘Ndrangheta in Kalabrien

Historisch gesehen nutzen die Mafiaorganisationen stets staatliche Krisensituationen aus, um ihre Macht über die gewünschten Territorien zu festigen. Die ‘Ndrangheta entwickelte sich kurz nach der Entstehung des Italienischen Staates in den 1860er Jahren. Der neue Staat Italien wies damals vor allem im Süden institutionelle Schwächen auf, welche teils auf die vielen Herrschaftswechsel zurückzuführen waren. Unter anderem in Kalabrien, der Heimatregion der ‘Ndrangheta, war die finanzielle Lücke zwischen den sozialen Klassen enorm. Die Mafiaorganisationen dort verstanden sich dabei als eine Art «Robin-Hood-Gang», die das Motto verfolgte «nimm von den Reichen und gib den Armen». Durch das Erpressen und Bestehlen der Reichen setzten sie sich so für den ärmeren Teil der Bevölkerung ein. Davon kommt möglicherweise die vom griechischen Wort «andragathos» abgeleitete Bedeutung des Wortes ‘Ndrangheta «Mut» oder «mutig». Natürlich war die Schaffung von Gerechtigkeit damals nicht das Hauptziel der sich entwickelnden Gruppierung. Vielmehr ging es darum, Abhängigkeiten zu schaffen und sich in der Gesellschaft selbst zu legitimieren, was ihr dadurch bis heute gelungen ist.

Auch heutzutage geniessen Mafiafamilien wie die ‘Ndrangheta im Süden Italiens bei einigen Teilen der Bevölkerung einen grösseren Respekt und Legitimierung als der Italienische Staat selbst. Dies machte sich während der Pandemie bemerkbar. Die ‘Ndrangheta zahlt Familien, die ihre Arbeit durch Corona verloren haben, ihre Einkäufe und begleicht sogar Verluste von verschuldeten Firmen. Dadurch werden noch mehr finanzielle Abhängigkeiten für die Zukunft geschaffen, welche später zur Erpressung gebraucht werden können.
 

Was hat das Ganze mit der Schweiz zu tun? Viel, denn die Schweiz ist durch ihre Funktion und Ruf als internationaler Finanzplatz ein profitables Ziel für die ‘Ndrangheta. Es gibt Indizien, dass sich die ‘Ndrangheta bereits in den 1980er Jahren hier etabliert hat. Der grossen Allgemeinheit wurde dies jedoch erst im Jahr 2014 bekanntgemacht, als das fedpol Überwachungsmaterial von einer ‘Ndrangheta-Versammlung in einem Restaurant im Thurgau veröffentlichte. Seither konnte sie sich, trotz einiger Rückschläge, immer stärker im Schweizer Wirtschaftssystem verankern. Dies wurde auch durch die erneuten Festnahmen im Aargau letzten Sommer klar.

Kann sich die ‘Ndrangheta langfristig in der Schweiz verwurzeln?

Die ehrenwerte Gemeinschaft, wie sich die Mafia auch nennt, nutzt momentan die vorherrschende Unsicherheit aus, um ihre Macht hierzulande weiter zu verwurzeln. In diesem Zusammenhang sind gemäss fedpol seit Beginn der Pandemie über 1300 Verdachtsfälle bei der Meldestelle für Geldwäscherei des Bundes in Verbindung mit Corona-Überbrückungskrediten eingegangen. Dabei ist es wahrscheinlich, dass ein grosser Teil dieser Kredite mit der ‘Ndrangheta in Verbindung steht. Durch die Unterstützung von Unternehmen mit Liquiditätsproblemen kann die Mafia Geldwäscherei betreiben, um auch in der Schweiz Abhängigkeiten zu schaffen. Unser Justizsystem ist ausserdem nicht für die Bekämpfung organisierter Kriminalität gewappnet, was auch der italienische Mafiaexperte Nicola Gratteri in einem Interview mit SRF bestätigte. Diese Entwicklungen sind äusserst alarmierend, wie die Pressesprecherin Kathrin Schmitter des fedpol berichtete. Eine erhöhte Präsenz der Mafia könnte auf den Wirtschaftsstandort Schweiz schwerwiegende Folgen haben.
 

Die Mafia in Italien ist über 150 Jahre alt. Dort hatte sie im vergangenen Jahrhundert genügend Spielraum, sich fest in Staat und Gesellschaft zu verwurzeln. Gemäss einem der bekanntesten Mafiaexperten und Journalisten Italiens, Roberto Saviano, ist die Mafia zudem ein kulturelles Phänomen. Viele kleine historische Ereignisse und Eigenheiten der südlichen Regionen Italiens haben zur Entstehung der Mafia geführt. In der Schweiz fehlt der ‘Ndranghata schlichtweg die Zeit - und besonders die kulturelle Basis – um sich hier so gut verankern zu können. Eine tiefergreifende kulturelle Etablierung der ‘Ndrangheta in der Schweiz bleibt zum heutigen Wissensstand deshalb eher unwahrscheinlich. Damit das so bleibt und die Organisationen rechtzeitig bekämpft werden können, müssen das fedpol und die Bundesanwaltschaft jedoch weiterhin einen starken Fokus auf die Bekämpfung des Problems setzen. Dies ist jetzt besonders wichtig, da die Corona-Pandemie zahlreiche neue «Geschäftsmöglichkeiten» für die Mafiaorganisationen bietet. Es ist nämlich bekannt, dass Mafiaorganisationen, besonders die ‘Ndrangheta, unglaublich agil und anpassungsfähig sind. Dies macht sie zu einer ernstzunehmenden Gefahr, die deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient hat, als sie heute erhält.

Adina Trinca studiert im zweiten Semester im Master of International Affairs and Governance. Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Werkstatt des Lehrprogramms Wirtschaftsjournalismus unter der Leitung von Stefanie Knoll, SRF, und ist Teil der Serie zum Thema «Geld oder Glück».
 

Bild: Adobe Stock / Oleg

 

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