Meinungen - 22.06.2017 - 00:00 

Vision vs. Pragmatismus: 25 Jahre nach der Rio-Konferenz

Die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 bleibt das Paradebeispiel für das Jahrzehnt der grossen Entwürfe. Ein Meinungsbeitrag von Klaus Dingwerth, Assistenzprofessor für Politikwissenschaft.
Quelle: HSG Newsroom

23. Juni 2017. In der internationalen Politik sind die 1990er-Jahre das Jahrzehnt der grossen Entwürfe. Die Charta von Paris skizziert 1990 eine Sicherheitsordnung für ein geeintes Europa. Der UN-Sicherheitsrat legitimiert 1990/91 die militärische Intervention im Irak und verschafft der UN-Charta so neue Bedeutung. Die Weltkonferenz für Menschenrechte in Wien zeichnet 1993 die Konturen einer internationalen Ordnung, in der die universellen Menschenrechte garantiert werden. Die Ottawa-Konvention verbietet ab 1997 die Nutzung, Herstellung, Lagerung und den Handel mit Landminen. Das Römer Statut von 1998 will mit der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs sicherstellen, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit künftig weltweit geahndet werden.

Hohe Erwartungen

Paradebeispiel für das Jahrzehnt der grossen Entwürfe bleibt jedoch die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung, die sich dieser Tage zum fünfundzwanzigsten Mal jährt. Die hohen Erwartungen, die auf der zweiwöchigen Konferenz lasteten, speisten sich aus zwei Quellen. Zum einen war das Bewusstsein für globale Umweltprobleme geschärft: Die Entwaldung, das Ozonloch und der Klimawandel waren auf der politischen Tagesordnung angekommen. Zum anderen begründete das friedliche Ende des Kalten Kriegs die Hoffnung auf umfangreiche zwischenstaatliche Kooperation zur Lösung gemeinsamer Herausforderungen: Das Zeitalter des «globalen Regierens» schien angebrochen.

Wie so viele weltpolitische Zusammenkünfte der 1990er-Jahre endete auch der Erdgipfel mit programmatischen Entwürfen, denen wenig konkrete Mittel zu ihrer Umsetzung gegenüberstanden. Verankert wurden vor allem hehre Grundsätze: das Verursacherprinzip; das Vorsorgeprinzip; der Grundsatz der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung; die Idee der nachhaltigen Entwicklung. Von den fünf zentralen Dokumenten blieben jedoch die Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung, die Agenda 21 und die Walddeklaration unverbindlich. Die anderen zwei – die Klimakonvention und die Biodiversitätskonvention – waren zwar rechtsverbindlich. Die Staaten liessen aber wesentliche Details offen und setzten somit nur den Rahmen für künftige Vereinbarungen zum Klimaschutz und zum Erhalt der biologischen Vielfalt.

Internationale Kooperation weitgehend erlahmt

Was damals die Norm war, muss uns heute wundersam und fern erscheinen. Ein Treffen von 172 Regierungen, das die gemeinsame Vision einer künftigen Weltumweltordnung entwirft? Im gegenwärtigen politischen Klima kaum vorstellbar. Stattdessen ist die Kooperation – wie in der Welthandelsorganisation – entweder weitgehend erlahmt, oder sie kommt – wie in der Klimapolitik – nur zäh voran und bleibt Stückwerk; die Vorstellung einer Weltpolitik «aus einem Guss» erscheint uns inzwischen als naiv und darum wenig brauchbar. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich das unlängst gefeierte Pariser Abkommen überhaupt als Erfolg sehen: Aus dem Blickwinkel von Rio, als dieselben Staaten bereits versprachen, dem «gefährlichen Klimawandel» Einhalt zu gebieten, ist es dies kaum.

Nun mag politisch einiges dafür sprechen, dass wir die Zeit der grossen Entwürfe hinter uns gelassen und in einen pragmatischeren Modus umgeschaltet haben. Dies gilt nicht zuletzt deshalb, weil spätestens im Rückblick klar wird, dass viele Entwürfe der 1990er-Jahre durch eine Hybris gekennzeichnet waren, die das Scheitern bereits in sich trug.

Im Rückblick sind allerdings auch etliche Errungenschaften eng mit dem visionären Charakter des Gipfels verbunden. So hat der Gipfel intellektuelle wie politische Energien im Projekt der «nachhaltigen Entwicklung» gebündelt und diesem den Weg zur Wachstumsindustrie geebnet. Er hat Umweltbewegungen in zahlreichen Ländern inspiriert, legitimiert und vernetzt. Er hat dafür gesorgt, dass sich nationale Bürokratien mit diesen Themen beschäftigen und so Pfadabhängigkeiten geschaffen, die langfristig Wandel ermöglichen. Er hat die Regierungen aus Industrie- und Entwicklungsländern erstmals zusammengebracht, um globalen Umweltschutz und Entwicklungsziele in Einklang zu bringen. Er hat Nichtregierungsorganisationen wie den Forest Stewardship Council ermuntert, globale Standards zu entwickeln, wo zwischenstaatliche Verhandlungen scheitern.

Kraft politischer Visionen

Rio erinnert uns damit ebenso an die Kraft politischer Visionen wie an ihre Unzulänglichkeiten. Denn die globalen Umweltprobleme sind auch 25 Jahre später kaum verschwunden – im Gegenteil! Um sie zu lösen hilft ein Zeitgeist, der die grossen Entwürfe rundheraus ablehnt, aber wenig, denn politische Visionen mobilisieren und integrieren soziales Handeln. Benötigen werden wir daher mindestens dreierlei: einen offenen Streit über die Ideen, die unser Handeln anleiten sollen. Pragmatismus und Experimentierfreudigkeit in der Verfolgung der Ziele, auf die wir uns einigen können. Und einen langen Atem.

Bild: Fred Pinheiro / Photocase

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