Meinungen - 21.01.2022 - 00:00 

USA: Ein Jahr Joseph Biden als Präsident

Am 20. Januar 2021 wurde Joseph Biden als 46. US-Präsident vereidigt. Welche Bilanz lässt sich nach einem Jahr ziehen? Von James W. Davis.
Quelle: HSG Newsroom

21. Januar 2022. Für viele Amerikaner wurde die grösste Errungenschaft von Joseph Biden bereits in der Wahlnacht 2020 gesichert. Denn mit über 80 Millionen Stimmen und 306 von 538 Wahlmänner hat er den umstrittensten Präsidenten seit dem Bürgerkrieg aus dem Amt verdrängt. Der Sieg war eindeutig. In den sechs vorherigen Präsidentschaftswahlen gewann nur Barack Obama im Jahr 2008 mit einem grösseren Gesamtstimmenvorsprung als der von Biden angehäufte Stimmenvorsprung von 7.060.140 Stimmen.

Und doch gelang es Donald Trump unter seinen Anhängern Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses zu säen. Er rief sie am 6. Januar 2021 nach Washington, um ihre Wut in einer trotzigen und irreführenden Rede zu schüren, die mit dem Aufruf zum Weitermarsch an das Kapitol endete. Dort hatte sich der Kongress versammelt, um die Wahlergebnisse zu bestätigen. Was folgte, war eine Szene, die wir eher aus Bananenrepubliken kennen: ein verrückter Mob ist in die Regierungshallen eingebrochen und widersetzte sich sowohl den Gesetzen als auch den Normen der ältesten Demokratie der Welt.

Trotz alle dem wurde Joseph Biden heute vor einem Jahr als 46. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt. Unter Verletzung der Tradition und dem Bedürfnis des Landes nach Einigkeit blieb Donald Trump der Amtsübergabe fern.  Obwohl von seiner Gereiztheit entsetzt, waren viele von uns einfach froh ihn los zu sein. Wir glaubten, dass der Heilungsprozess beginnen könnte.

Gespaltenes Amerika

Ein Jahr später ist das Land so gespalten wie eh und je. Nur 21 Prozent der republikanischen Wähler glauben, dass Biden der legitime Präsident der Vereinigten Staaten ist. Obwohl viele von ihnen ihre eigenen Ämter auf denselben Stimmzetteln wie Biden sicherten, wiederholen nicht wenige republikanische Abgeordnete Trumps grosse Lüge und behaupten, die Wahl sei manipuliert gewesen. Seit seiner Niederlage hat der ehemalige Präsident über 100 Millionen Dollar für seine politische Aktivitäten gesammelt. Er hat jene Parteifreunde ins Visier genommen, die er als unzureichend unterwürfig ansieht. Mit Kundgebungen im ganzen Land gibt er alle Hinweise darauf, dass er 2024 erneut kandidieren wird.

Gleichzeitig hat die frühe Popularität Präsident Bidens stark abgenommen. Nach einem Jahr im Amt billigen nur 40 % des Landes seine Arbeitsleistung. Es hilft nicht, dass seine öffentlichen Auftritte einen nicht gerade zuversichtlich stimmen. Oft befürchtet man, dass er nicht nur über seine Zeilen stolpern wird. All dies deutet darauf hin, dass die hauchdünnen Mehrheiten der Demokraten im Repräsentantenhaus und im Senat bei den Zwischenwahlen im kommenden November stark gefährdet sind.

Absolut gesehen hat der Präsident ein gutes Jahr hinter sich. Vor allem sorgte er für die Verabschiedung von zwei massiven Gesetzespaketen. Der American Rescue Plan Act von 2021 pumpte 1,9 Billionen Dollar in die von COVID verwüstete Wirtschaft und wurde gefolgt von dringend benötigten 1,2 Billionen für die marode Infrastruktur Amerikas. Das Problem ist jedoch, dass der Präsident am Anfang des Jahres die Messlatte für seine Politik viel höher gelegt hatte. Er versprach nicht nur COVID zu besiegen, sondern bat den Kongress auch um weitere 6 Billionen Dollar um den amerikanischen Wohlfahrtsstaat grundlegend umzugestalten. Aber Mutter Natur und die Natur der Politik in einem polarisierten Land zogen schnell die Bremsen. Delta und Omikron widersprachen allen Behauptungen, das Virus gezähmt zu haben, während zwei Senatoren aus seiner eigenen Partei das Budget für die ehrgeizige innenpolitische Agenda des Präsidenten auf null herunterfuhren. Mit einer 50/50-Spaltung im Senat sind jene Fantasien des Präsidenten, ein zweiter Franklin Roosevelt zu werden, genau das: Fantasien. In der Tat ist die derzeitige Wahrnehmung von innenpolitischer Schwäche zum grossen Teil das Ergebnis von Bidens anfänglicher Übertreibung.

Innenpolitische Schwäche

Obwohl angesichts seiner langen politischen Karriere überraschend, wären solche Fehler nicht so schlimm, wenn der Präsident zumindest auf ein freundliches internationales Umfeld zählen könnte. Aber eine globale Lieferkettenkrise hat vor dem Hintergrund eines Jahrzehnts billigen Geldes, der Billionen, die während der Pandemie in die Wirtschaft gepumpt wurden, sowie der während des Lockdowns aufgestauten Nachfrage, zu einer weit verbreiteten Knappheit geführt. Die Bekämpfung der daraus resultierenden Inflation erfordert eine konzertierte, multilaterale Politik. Aber wird ein innenpolitisch schwacher Präsident das politische Ansehen haben, um eine Führungsrolle zu übernehmen?

Bidens innenpolitische Schwäche und sein chaotischer Rückzug aus Afghanistan haben auch unsere Gegner ermutigt, seine Entschlossenheit herauszufordern. In Asien prüft Peking die Bereitschaft Amerikas Taiwan zu verteidigen, während Putin seine Truppen an der Grenze zur Ukraine mobilisiert.

Bedeutet dies alles, dass wir uns auf die Rückkehr von Trump vorbereiten müssen? Allein die Frage lässt einen zusammenzucken.  Doch trotz Bidens Problemen ist es unwahrscheinlich, dass irgendjemand, der für ihn gestimmt hat, einen Vorteil in der Rückkehr von Trump sehen könnte. Doch werden sie überzeugt genug sein, um tatsächlich für einen Präsident Biden zu stimmen, der zu Beginn seiner zweiten Amtszeit 82 Jahre alt wäre?

Dieser Beitrag erschien zunächst im Münchner Merkur vom 20. Januar 2022.

James W. Davis ist Direktor des Instituts für Politikwissenschaft (IPW-HSG) und Professor für Politikwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Internationalen Beziehungen.

Bild: Adobe Stock / AlexanderRamjing.com

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