Meinungen - 07.05.2012 - 00:00 

Sport als politische Tribüne?

Die Fussball-Europameisterschaft in der Ukraine ist umstritten. Was bewirken Boykotte von Sportgrossveranstaltungen auf politischer Ebene? Martin Müller über Sport als politische Tribüne in Osteuropa.
Quelle: HSG Newsroom

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8. Mai 2012. Mehr als 150 Millionen Zuschauer weltweit werden ab dem 8. Juni für drei Wochen gebannt einen Ball verfolgen. Das Eröffnungsspiel der Fussball-Europameisterschaft in Warschau bildet den Auftakt zu einem der grössten europäischen Medienereignisse. Die Aufmerksamkeit der europäischen Bürgerinnen und Bürger ist kostbar: die Medienrechte an der Europameisterschaft werden für mehr als 1 Milliarde Schweizer Franken verkauft, Sponsoring und Merchandising bringen weitere geschätzte 350 Millionen ein. Wann sonst erhält man schliesslich die Gelegenheit, sich so prominent öffentlich zu plazieren?

Boykott der Spiele in der Ukraine
Dasselbe dachte sich wohl auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel als sie Ende April verkündete, sie werde womöglich die Europameisterschaft nicht besuchen – zumindest solange die in der Ukraine inhaftierte Oppositionspolitikerin und ehemalige Ministerpräsidentin Julija Timoschenko nicht freigelassen werde. Timoschenko war am 20. April in einen Hungerstreik getreten, um auf die unmenschlichen Haftbedingungen aufmerksam zu machen. Der Zeitpunkt sechs Wochen vor dem Anpfiff war bei der medienerfahrenen Politikerin wohl kein Zufall. Am Donnerstag schloss sich auch die EU-Kommission Merkels Initiative an und erklärte, der Veranstaltung fernbleiben zu wollen. Die Reaktion aus der ukrainischen Regierung war so heftig wie vorhersagbar: ein Regierungssprecher warf Merkel vor, sich Methoden des Kalten Kriegs zu bedienen und den Sport zur Geisel der Politik zu machen.

Sportgrossveranstaltungen als politische Tribüne zu benutzen ist nicht neu. Gerade aufstrebende Staaten nutzen solche Gelegenheiten gerne, ihr Land einer internationalen Öffentlichkeit als weltoffen und fortschrittlich zu präsentieren. Ihre grosse Premiere auf der medialen Weltbühne hatten zum Beispiel China mit den Olympischen Spielen 2008 und Südafrika mit der Fussball-Weltmeisterschaft 2010. Umgekehrt bieten solche Anlässe aber auch eine Plattform für internationalen politischen Protest. Den Olympischen Spielen in Moskau 1980 blieben die Teams von 62 Nationen fern, nachdem US-Präsident Jimmy Carter zu einem Boykott als Zeichen gegen den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan aufgerufen hatte.

«Sport ist Sport» bleibt Devise des Fussballverbands
Für den Fussballverband UEFA gehören Politik und Sport in getrennte Schubladen. Deshalb gibt es von dieser Seite auch wenig Beifall für einen Boykott. Die UEFA befindet sich in einer heiklen Position: so kurz vor dem Auftakt ist sie auf die Ukraine angewiesen. Eine Verlegung der Spiele, wie teilweise vorgeschlagen, ist logistisch unmöglich. Notgedrungen muss der Sportverband dem Gastgeber deshalb den Rücken stärken, indem er Sport als unpolitischen Selbstzweck bezeichnet.

Dabei hat die politische Instrumentalisierung der Europameisterschaft in der Ukraine schon längst stattgefunden. Die Vorbereitung auf die Ausrichtung wird als nationalpatriotische Übung wahrgenommen. In grossem Stil fliessen staatliche Mittel, um Flughäfen, Strassen, Hotels und Stadien für das Publikum vor den Fernseh- und Computerbildschirmen herauszuputzen. So soll nach aussen das Regime legitimiert und eine heile Welt präsentiert werden, die mit dem Alltag im Land wenig zu tun hat. Dort regiert seit den Präsidentschaftswahlen 2010 eine politische Elite, die weniger um die Bevölkerung als um sich selbst besorgt ist. Von den staatlichen Aufträgen für die Europameisterschaft werden stattliche Summen in private Taschen abgezweigt. Der Schauprozess um Timoschenko ist ein Indiz für den maroden Zustand der Rechtsstaatlichkeit. 

Signal gegen Misstände
Angela Merkel hat deshalb nicht nur richtig, sondern auch angemessen gehandelt. Wer Mitglied der europäischen Staatengemeinschaft werden will, kann nicht «aussen hui und innen pfui» sein. Indem sie mit ihrem eigenen Fernbleiben droht – nicht jedoch mit dem der deutschen Nationalmannschaft – hat sie ein politisches Signal gegeben. Wenn die Ukraine wirklich an der Trennung von Sport und Politik festhält, dürfte sie der Abwesenheit Merkels relativ wenig Bedeutung beimessen. Das Spiel auf dem Rasen beeinflusst es schliesslich nicht.

Auch wenn viele von uns bei der Europameisterschaft der Sport mehr interessiert als die Politik: allein unsere Aufmerksamkeit erlaubt es, wirksame Zeichen gegen die Verletzung von Menschenrechten zu setzen. Schauen wir also nicht weg.

Bild: Photocase / Rebekkaw

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