Forschung - 05.07.2012 - 00:00 

Soziologische Gespräche in Athen

Auf dem Weg zur griechischen Insel Tinos machen drei St.Galler Soziologen Halt in Athen. Dort sprachen sie mit arbeitslosen jungen Leuten, Lehrern, Behördenangestellten und Wissenschaftlern. Eine Bestandsaufnahme.
Quelle: HSG Newsroom

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29. Juni 2012. In Athen stellten sich Franz Schultheis, Patricia Holder und Michael Gemperle als Soziologen aus der fernen Schweiz vor, interessiert an Informationen aus erster Hand jenseits der üblichen Medienberichte. Die Interviews mit Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen in Griechenlands Hauptstadt vermittelte Nikos Panayotopoulos von der Universität Kreta. In 90minütigen Interviews brachten die Wissenschaftler in Erfahrung, wie ihre Gesprächspartner ihre persönliche Situation und die Lage ihres Landes sehen.

Vertrauensverlust und «big depression»
Mit diesem Dutzend an ethnographischen Informanten wollten und konnten die St.Galler Soziologen natürlich keinerlei Repräsentativität für die griechische Bevölkerung beanspruchen; auch wenn Gesprächspartner betreffend Alter und Geschlecht gut durchmischt waren. Wenn auch nicht repräsentativ, so war das Ergebnis der Befragung doch vielstimmig. «Was bei unseren Gesprächen Schritt für Schritt, Satz für Satz Gestalt annahm, war das Bild einer «big depression», vergleichbar mit der Wahrnehmung der Weltwirtschaftskrise von 1929», sagt Schultheis.

Alle Gesprächspartner schilderten ihre Situation als von massiven Einschränkungen und Verschlechterungen ihrer Lebensumstände und Lebenschancen gekennzeichnet: um bis zu 50 Prozent gekürzte Gehälter, Arbeitslosigkeit seit Eintritt der Krise vor zwei Jahren, Rückkehr unter das Dach der Eltern mangels Möglichkeit, die Miete für die eigene Wohnung zu zahlen, ganze Familien, die von der Rente der Grosseltern leben müssen.

Bei allen Zeugnissen tritt zutage, wie massiv der in kürzester Zeit unter Aufsicht der Troika aus IWF, EZB und EU Kommission eingetretene kollektive Absturz aus einer bis vor Kurzem noch gesichert wirkenden Normalität bescheidenen Wohlstandes einer nun erodierenden Mittelklasse ausfiel. Durchweg unterstrichen die Gesprächspartner den totalen Vertrauensverlust. Nicht nur in Akteure, Parteien und Gewerkschaften, die die Umverteilungspolitik unterstützen, sondern auch in staatliche Institutionen, die, um erneut die «internationalen Verpflichtungen» zu erfüllen, von ihnen immer höhere Abgaben verlangen.

Familie als Rückzugsort
Als einzige verlässlich erscheinende Institution angesichts eines zusammenbrechenden «sorgenden Staates» wirkt die Familie wie ein «haven in a heartless world» (Zitat Christopher Lasch). «Besonders erschütternd für uns drei Besucher war die enorme Perspektivlosigkeit, die in diesen Schilderungen unisono sehr glaubhaft zum Ausdruck kam», sagt Schultheis. Keiner der Interviewpartner schien auch nur ansatzweise die Möglichkeit zu sehen, dass sich in absehbarer Zeit Alternativen durchsetzen lassen.

Vielmehr sprach man von einem Zeitraum von 30 Jahren, dem einer ganzen Generation. Fast ebenso lange, wie man selbst gebraucht hatte, um sich aus dem Alten Regime der Militärdiktatur in die Gegenwart zu begeben. Hier und da schimmert ein wenig Hoffnung auf, wenn man von neuen sozialen Bewegungen, neuen zivilgesellschaftlichen Formen der Solidarität und kreativen Arrangements mit dem Mangel, die Neues entstehen lassen, spricht.

Insgesamt überwiegt jedoch ein düsteres Bild von materiellen Nöten und Einschränkungen, Verunsicherungen und grosser Sorge für die Jungen, denen man einen solchen Scherbenhaufen als Erbe mit auf den Lebensweg gibt. Zur Sprache kamen auch die symbolischen Verletzungen durch die kursierenden stereotypen Schuldzuschreibungen, selbst verantwortlich für die jetzige Misere zu sein und nun dafür kollektiv haften zu müssen.

Bild: Photocase / The Cramped

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