Meinungen - 11.06.2021 - 00:00 

Sorge um die Wertschätzung von Sorge-Arbeit bleibt

Nach dem grossen Frauenstreik am 14. Juni 2019 wurde die Forderung laut, endlich die zu grossen Teilen weibliche Care-Arbeit hierzulande als wertvolle Arbeit anzuerkennen und aufzuwerten. Doch nach eineinhalb Jahren gesellschaftlichen Zusammenlebens in Zeiten von Corona gibt die aktuelle Situation wenig Anlass zu Euphorie. Von Christa Binswanger.
Quelle: HSG Newsroom

11. Juni 2021. Wir schreiben das Jahr 2021. In diesem Jahr feiern wir hierzulande fünfzig Jahre Frauenstimmrecht, also die Tatsache, dass auch Frauen als vollwertige Bürgerinnen anerkannt wurden – obschon diese Anerkennung im europäischen Vergleich sehr spät erfolgte. Und der Rückblick auf den grossen Frauenstreik am 14. Juni 2019 lässt die erlebte Solidarität aufleben, die in diesem Streik zum Ausdruck kam. So wurde etwa die Forderung laut, endlich die zu grossen Teilen weibliche Care-Arbeit hierzulande als wertvolle Arbeit anzuerkennen und aufzuwerten. Doch nach eineinhalb Jahren gesellschaftlichen Zusammenlebens in Zeiten von Corona gibt die aktuelle Situation wenig Anlass zu Euphorie: die Forderungen blieben weitgehend ungehört. Die Auswirkung der Pandemie trifft die Gruppe der Frauen härter als die Gruppe der Männer, die Prekarisierung im Dienstleistungssektor, im Niedriglohnbereich und in den Pflegeberufen hat zu- und nicht abgenommen. Das Lohnniveau, das im Pflegebereich dringend angehoben werden müsste, ist insgesamt unverändert tief geblieben.

In meinem heutigen Beitrag möchte ich erst einen Blick in die Geschichte werfen: wie kommt es, dass sich westliche Gesellschaften im Allgemeinen und die Schweiz im Besonderen so sträuben, weiblich verstandene Care-Arbeit und männlich verstandene Lohnarbeit als gleichwertig anzuerkennen? Und wie spiegelt sich die Persistenz der Care-Arbeit als grosse Ungerechtigkeitsmaschine – so die Ökonomin Mascha Madörin – beispielsweise im neuen Scheidungsrecht?

Geschichte der Ausdifferenzierung der Geschlechterrollen

Ein Blick in die Geschichte der Aufklärung macht deutlich: die Ausdifferenzierung der Geschlechterrollen in der Kleinfamilie geht mit der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft einher. Bis ins 18. Jahrhundert waren Ehen vor allem eines: eine ökonomische Gemeinschaft, die – ausserhalb des Adels, der eigenständig organisiert war – Rechte und Pflichten für die Eheleute im Rahmen einer Grossfamilie einschliesslich Gesinde festlegte. Vorstellungen von spezifisch weiblichen Eigenschaften – wie Mütterlichkeit und Einfühlsamkeit – entstanden erst im Zuge der bürgerlichen Aufklärung, ideengeschichtlich einhergehend mit Klassik und Romantik. Erst damals entstand die Vorstellung davon, dass Kinder keine kleinen Erwachsenen sind und einer besonderen mütterlichen Sorge- und Versorgungsarbeit bedürfen. Die Historikerin Karin Hausen ordnete diese Entwicklung als eine Unterordnung und materielle Abhängigkeit der bürgerlichen Gattin unter die Bedürfnisse eines aufgeklärten bürgerlichen Ehemannes ein. Eine Folge davon war beispielsweise, dass Frauen qua Geschlecht bis Ende des 19. Jahrhunderts vom Hochschulstudium ausgeschlossen waren. Das sog. «Ein-Ernährer-Modell» löste die bisherige Hausgemeinschaft mehr und mehr ab. Ihre Blütezeit erlebte die bürgerliche Kleinfamilie nach dem 2. Weltkrieg bis ungefähr in die 1980er Jahre. Das Modell einer bürgerlichen Ehe zeigt in westlichen Gesellschaften bis heute seine Wirkmacht – auch wenn es derzeit immer mehr Risse aufweist.

Care-Arbeit in Familien mit Kindern

Wie steht es heute um Care-Arbeit in Familien mit Kindern? Da Erwerbstätige besonders von der Care-Arbeit anderer abhängig sind, zeichnen sich heutige heterosexuelle Ehegemeinschaften in der Schweiz durch eine ungleiche Verteilung von bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Care-Arbeit aus. In heutigen klassischen Kleinfamilien übernehmen Mütter durchschnittlich zwei Drittel der unbezahlten Care-Arbeit, Väter einen Drittel. Dies bedeutet zwar einen Anstieg des väterlichen Engagements in der Familie, aber es bedeutet gleichzeitig auch, dass Väter 80 bis 100 Prozent Erwerbsarbeit leisten, die ihnen ermöglicht, sich auf dem Arbeitsmarkt zu etablieren. Gleichzeitig arbeitet die grosse Mehrheit der Mütter in sehr kleinen Pensen (durchschnittlich 30 Prozent) und kann sich weder qualifizieren noch aufsteigen. Hier von Wahlfreiheit der Mütter zu sprechen, verfehlt die institutionellen Bedingungen in der Schweiz: die Retraditionalisierung der Mütter bei Geburt des ersten Kindes und ihr Rückzug aus dem Arbeitsmarkt entspricht, wie der Soziologe René Levy aufgezeigt hat, nicht primär ihren Wertvorstellungen und Wünschen. Sondern sie fusst einerseits in fehlenden oder zu teuren Betreuungsmöglichkeiten und andererseits in konservativen Werthaltungen in der Schweiz, mit denen junge Mütter konfrontiert werden. Paare, die noch vor der Geburt von einer egalitären Arbeitsteilung ausgehen, revidieren diese Ansicht mehrheitlich nach einem Jahr: die Werte werden in Richtung ungleicher Aufteilung von «weiblicher» unbezahlter Care-Arbeit und «männlicher» Erwerbsarbeit angepasst.  

Revision des Scheidungsrechts

Stellen wir uns vor: bezahlte Erwerbarbeit und unbezahlte Care-Arbeit würden gesellschaftlich gleichwertig eingestuft werden. Wäre diese Überlegung in die aktuelle Revision des Scheidungsrechts eingeflossen, so würde in einer Scheidungssituation die unbezahlte Care-Arbeit der Ehefrau, die dem Ehemann ermöglichte, sich während der gemeinsamen Ehejahre beruflich zu etablieren, in die Rechnung einfliessen. In den gängigen Diskursen dazu wird vor allem betont, eine beispielsweise 45-jährige Mutter müsse nach der Scheidung «halt wieder arbeiten gehen». Dass sie all die Jahre unbezahlte Sorge- und Versorgungs-Arbeit geleistet hat und vermutlich auch nach der Scheidung den Grossteil dieser unbezahlten Arbeit übernimmt, ist in solchen Aussagen ein völlig blinder Fleck. Die von ihr unbezahlt geleistete Arbeit wird nicht als Arbeit anerkannt.

Und so bleibt die Wertschätzung von Sorge-Arbeit auch im Juni 2021 eine dringliche gleichstellungspolitische Sorge.

Prof. Dr. Christa Binswanger ist Ständige Dozentin für Gender und Diversity an der Universität St.Gallen.

Bild: Adobe Stock / Oksana Kuzmina

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