Meinungen - 21.04.2020 - 00:00 

Sollte Italien die Lockdown-Massnahmen jetzt lockern?

Ein Meinungsstück von Guido Cozzi.
Quelle: HSG Newsroom

21. April 2020. Öffnen oder nicht öffnen? Das ist die Frage, vor der die politischen Entscheidungsträger in Italien derzeit stehen und die Millionen von Menschen betrifft, denen grundlegende Freiheits- und Bürgerrechte entzogen wurden.

Die Zahl der täglichen Todesfälle ist in den letzten beiden Wochen von 800–1000 auf 400–600 gesunken. Ist dies das Resultat der bedingt durch den Lockdown gesunkenen Infektionsrate? Tatsächlich dauert es 3–4 Wochen von der Inkubation bis zum Tod (oder der Genesung), weshalb der aktuell vergangene Zeitraum seit Beginn des Lockdown – und der wahrscheinlichen Reduzierung der Basisreproduktionszahl R0 – wahrscheinlich der Grund ist, weshalb wir erst jetzt einen Rückgang bei den Sterbefällen verzeichnen. Dies wird auch durch die sinkende Hospitalisationsrate zur Akutversorgung bestätigt. Oder ist es, wie manche denken, vielmehr so, dass der Höhepunkt ohnehin vorübergegangen ist und die Kurve sich bereits abflacht?

Obwohl ich nicht glaube, dass diese zweite Erklärung zutrifft, muss ich zugeben, dass wir es nie sicher wissen werden, wenn wir nicht in der Lage sind, repräsentative Stichproben der Bevölkerung zu testen. Solche Tests sollten in allen Regionen und Provinzen sowie in allen grossen Städten durchgeführt werden.

Leider haben die Zentralregierung sowie die Regierungen der Regionen viel zu lange mit der Durchführung von Abstrichtests an zufällig ausgewählten repräsentativen Gruppen gewartet, die man problemlos und kostengünstig bereits vor zwei Monaten hätte starten können. Damit hätte man den Ansteckungsverlauf in der Bevölkerung zuverlässig verfolgen können, so dass die Entscheidungsträger nun korrekte Ausgangsdaten zur Verfügung hätten. Stattdessen haben wir nur die offiziellen Zahlen, die keinen adäquaten Ersatz darstellen, weil sie für die Gesamtbevölkerung nicht repräsentativ sind. In der Tat liegt bei diesen Zahlen eine Stichprobenverzerrung vor und sie sind statistisch betrachtet nahezu bedeutungslos.

Selbst wenn wir jetzt mit der Durchführung angemessener Abstrichtests beginnen, würde uns das keine Informationen darüber liefern, wie viele Personen bereits von Covid-19 genesen sind, da diese lediglich als nicht mit Covid-19 infiziert erfasst würden. Unser einziges Glück ist, dass in Kürze serologische Tests zur Verfügung stehen werden, so dass wir eine Chance haben, endlich aussagekräftige Daten zu sammeln, wie man sie von einem hoch entwickelten Land erwarten kann.

Vor der Durchführung angemessener Stichproben stellt eine Lockerung nur ein Risiko dar: Die berühmt-berüchtigte R0 wird sich mit Sicherheit erhöhen und wir werden wahrscheinlich eine zweite Welle erleben. Natürlich haben unsere Ärzte – insbesondere in den verschiedenen Allgemeinspitälern – inzwischen gelernt, Arzneien gezielter einzusetzen, und sie haben auch mit Telearbeit begonnen und können verhindern, dass zu viele Menschen zu Hause allein gelassen werden und lediglich Paracetamol gegen ihr Fieber einnehmen.

Ausserdem sind unsere Intensivbehandlungsplätze nun besser ausgerüstet. Generell können wir aus all den Fehlern lernen, die in den ersten Monaten auf lokaler Ebene gemacht wurden, vor allem in der Lombardei. Daher könnte die zweite Welle weniger extrem ausfallen. Eines bleibt jedoch sicher: Es hat keine fachgerechte Sammlung zuverlässiger Daten stattgefunden und jegliche Entscheidung, die wir jetzt treffen, kann nicht viel mehr als ein Schuss ins Blaue sein.

Foto: photocase.com / rarrarorro

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