Hintergrund - 25.01.2022 - 00:00 

Rolf Wüstenhagen über Solar- und Windenergie versus neue AKWs

Der Vorschlag der EU-Kommission, Atomkraftwerke unter gewissen Bedingungen als «grüne» Investition einzustufen, hat in den Mitgliedsstaaten kontroverse Reaktionen ausgelöst. Ein Interview mit Rolf Wüstenhagen, Professor für Management Erneuerbarer Energien an der Universität St. Gallen.
Quelle: HSG Newsroom

25. Januar 2022. Hierzulande stimmen die Delegierten der FDP Schweiz am 12. Februar 2022 darüber ab, ob das 2017 vom Volk beschlossene Verbot für den Bau neuer Kernkraftwerke fallen soll. Zeichnet sich eine «Renaissance» der Kernenergie ab? Rolf Wüstenhagen, Professor für Management Erneuerbarer Energien an der Universität St. Gallen, sieht dies im Interview kritisch.

Was halten Sie davon, dass die EU AKWs als «grün» einstufen will?

Rolf Wüstenhagen: Das ist in erster Linie ein beeindruckender Lobbying-Erfolg für Präsident Macron und die französische Nuklearindustrie. Ob es am Finanzmarkt einen grossen Unterschied macht, wage ich zu bezweifeln. Private Investoren schätzen die Risiken der Atomenergie nicht plötzlich grundlegend anders ein, wenn die EU-Kommission der Technologie ein grünes Mäntelchen umhängt. Zu befürchten ist allerdings, dass damit die Wirksamkeit der EU-Taxonomie als glaubwürdiges Instrument zur Finanzierung des Klimaschutzes untergraben wird.

AKW verursachen wenig CO2, dafür Atommüll. Sollte aufgrund der Dringlichkeit nicht die CO2-Problematik höher gewichtet werden?

RW: Gerade weil die CO2-Problematik ein dringliches Problem ist, müssen wir in Technologien investieren, die auch schnell einen Beitrag zur Lösung leisten können. Atomenergie gehört nicht dazu. In Finnland geht dieses Jahr wahrscheinlich der erste Reaktor seit Langem in Betrieb – nach 17 Jahren Bauzeit und mit mehr als dreimal so hohen Kosten wie ursprünglich budgetiert. Selbst in Frankreich wurde seit zwei Jahrzehnten kein Reaktor mehr fertiggestellt.

Erneuerbare Energien verursachen auch Sondermüll, doch die öffentliche Debatte konzentriert sich auf den Atommüll. Zurecht?

RW: Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen erneuerbaren Energien wie Solar- und Windenergie und nicht-erneuerbaren Energien wie Gas und Atomkraft: Zwar braucht es in beiden Fällen Rohstoffe für den Bau des Kraftwerks. Doch ist dieses einmal in Betrieb, funktionieren Solar- und Windkraftwerke ohne weitere Brennstoffzufuhr, während konventionelle Kraftwerke kontinuierlich nicht-erneuerbare Ressourcen verbrauchen, deren Überbleibsel dann die Umwelt belasten. Hinzu kommt, dass wir nach einem halben Jahrhundert Betrieb der AKW immer noch kein Endlager haben. Dass die EU-Kommission in ihrer Taxonomie als Auflage für «grüne» Atomkraft formuliert, dieses Problem bis zum Jahr 2050 zu lösen, ist zynisch.

Laut einer von Kernkraft-Befürwortern viel zitierten Studie des PSI kostet AKW-Strom ähnlich viel wie Strom aus erneuerbaren Energien. Gelten AKW zu Unrecht als teuer?

RW: Die Studie vergleicht in diesem Punkt Äpfel mit Birnen. Da in Europa schon lange kein neues AKW gebaut wurde, verweist das PSI in einer Fussnote auf die Kosten neuer Reaktoren in China und Südkorea. Bei Solar- und Windenergie werden hingegen Schätzungen für Schweizer Projekte genannt. Bei einem fairen Vergleich sind Solar- und Windenergie schon heute deutlich günstiger als neue AKW. Zu beachten sind bei der wirtschaftlichen Beurteilung der Atomenergie noch zwei methodische Aspekte. Der erste betrifft die Kosten für Rückbau und Entsorgung der AKW. Die radioaktiven Abfälle müssen über tausende Jahre sicher gelagert werden. In einer Welt mit hohen Zinsen kann man diese langfristigen Kosten abdiskontieren, so dass sie praktisch aus der Buchhaltung verschwinden. In einer Niedrigzinswelt sieht die Rechnung anders aus. Der zweite Punkt ist das Unfallrisiko: In Japan schätzt man die Kosten des Atomunfalls von Fukushima heute auf 270 bis 630 Milliarden Franken. Schweizer AKW sind aber nur bis 1.8 Milliarden Franken versichert – die Differenz ist eine Subvention durch den Steuerzahler.

Die Politik liebäugelt damit, die bestehenden AKW in der Schweiz länger als 60 Jahre laufen zu lassen. Ist das vernünftig?

RW: Bereits abgeschriebene Kraftwerke einfach weiterlaufen zu lassen, wäre – wenn alles gut geht – für die Aktionäre der AKW-Betreiber kurzfristig finanziell attraktiv. Wie bei jeder technischen Anlage steigt aber mit zunehmender Lebensdauer das Risiko, dass etwas kaputt geht. Die Schweiz betreibt schon heute die ältesten kommerziell betriebenen AKW der Welt – statt einer weiteren Vergreisung unseres Kraftwerksparks sollten wir lieber beherzt in die Zukunft investieren.

Im Winter kommt es in der Schweiz zu Stromlücken, selbst wenn wir die erneuerbaren Energien ausbauen. Wären AKWs nicht vernünftiger?

RW: Ihrer Frage liegt die Annahme zugrunde, dass wir die erneuerbaren Energien weiter so langsam ausbauen wie bisher. Wenn es uns aber gelingt, das Tempo des Ausbaus zu erhöhen – wie das übrigens eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung wünscht – und wenn wir dabei auf eine gute Diversifikation zwischen Solar- und Windenergie in verschiedenen Landesteilen achten, dann können wir in Kombination mit der Wasserkraft auch künftig zuverlässig unseren Strombedarf decken. Zudem gilt es, die Energieeffizienz im Auge zu behalten – gute Dämmung und der Ersatz von Elektroheizungen durch Wärmepumpen können helfen, Verbrauchsspitzen im Winter zu reduzieren.

Das Interview führte Michael Bolzli, awp Finanznachrichten

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