Hintergrund - 31.10.2022 - 00:00 

Peter Maurer über regionale und globale Herausforderungen

Wenige Persönlichkeiten haben einen derart privilegierten Zugang zu den Brennpunkten und Mächtigen dieser Welt wie die Führungskräfte des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Nach einem Jahrzehnt im Amt des Präsidenten wechselt Peter Maurer in diesen Tagen ans Basel Institute on Governance, von der humanitären Zusammenarbeit hinüber in die Bekämpfung von Korruption. Ein Beitrag von Christoph Frei.
Quelle: HSG Newsroom
Peter Maurer im Gespräch mit Christoph Frei

Als Ehrengast am HSG-Konvent von Ehemaligen im Bereich Staatswissenschaften / International Affairs teilte Peter Maurer seine persönlichen Einschätzungen. Die nachfolgende Zusammenfassung folgt der Struktur des Vortrags als einer Rundschau in zehn Schritten.

1. Was sind die Trends im internationalen System?
Kooperation und Konflikt gehören zu den Grundkonstanten der internationalen Politik; was sich stetig verändert, ist die jeweilige Mischung. Im Nachgang zum Fall der Mauer schien es eine Zeitlang, als ob kooperative Elemente sich dauerhaft würden durchsetzen können, auch selbst hochgewaltsame Zwischenspiele nie fehlten. Spätestens mit dem arabischen Frühling und namentlich mit dem internationalisierten Bürgerkrieg in Syrien rückte das konfliktuelle Element wieder in den Vordergrund, traten deutlich unterschiedliche Wahrnehmungen und Interessen zwischen den Grossmächten offen zutage. Der Krieg in der Ukraine, die wachsenden Spannungen um Taiwan verstärken und verstetigen diesen Trend.

Im Hintergrund gibt es langfristige Entwicklungen. Dazu gehören Machtverschiebungen vom Westen und Norden nach Süden und Osten; der anhaltende Einfluss neuer Technologien auf den Alltagsmodus der internationalen Politik; der Übergang von uni- und bipolaren Konfigurationen zu einer multipolaren Weltordnung, in der überdies nicht nur souveräne Staaten miteinander in Beziehung treten, sondern eine unübersehbare Vielzahl von Akteuren. Heute ist die globale Arena geprägt von Unsicherheit, Unvorhersehbarkeit, erhöhter Machtdiffusion, erhöhter Geschwindigkeit.

2. Indikatoren für Fragilität
Ob in der Entwicklungszusammenarbeit oder mit Blick auf den Klimawandel: Multilateral ausgehandelte Abkommen werden nicht adäquat umgesetzt. Während der überwiegende Teil der Weltgesellschaft länger lebt, besser ausgebildet ist und mehr Kaufkraft geniesst als jemals zuvor, bleibt rund ein Viertel der Menschheit vom guten Leben ausgeschlossen. Die aggregierte Zahl von Binnen- und internationalen Flüchtlingen war noch nie so hoch wie heute. Rund 100 Millionen Menschen leben ausserhalb staatlicher Strukturen. Die Wirkung moderner Waffensysteme stellt uns vor neue Herausforderungen auch im Bereich des Völkerrechts. Der moderne Krieg vollzieht sich in neuen Dimensionen: über Land, Luft und Wasser hinaus zählen unterdessen auch der Weltraum und neue, digitale Räume zu den Konfliktzonen der Gegenwart. Aber es braucht noch nicht einmal gewaltsame Konflikte, um humanitäre Krisen herbeizuführen, dazu das Stichwort fragiler Staatlichkeit in vielen Erscheinungsformen, etwa im Libanon, in Venezuela, Kuba oder Afghanistan. In allen Fällen übersteigt der Bedarf nach Nothilfe die vorhandenen Angebote deutlich.

3. Was uns emblematische Konflikte sagen
Jede der heutigen Grossbaustellen hält ihre eigenen Lektionen bereit. Der Konflikt in der Ukraine bringt zu Bewusstsein, dass die bisherige sicherheitspolitische Architektur Europas nicht länger genügt. Der internationalisierte Bürgerkrieg in Syrien demonstriert eindrücklich, mit welcher Geschwindigkeit eine moderat wohlhabende Gesellschaft in die Armut zurückgebombt wird. In Afghanistan läuft ein übergreifender Konsens im Rest der Welt darauf hinaus, dass den gegenwärtigen Machthabern nicht geholfen werden soll. Im Jemen sehen wir, wie rasch das Interesse der Öffentlichkeit an einem Konflikt erlöschen kann. Über den Sahel berichtet kaum jemand, obschon jenes Gebiet heute das wohl grösste Aufmarschgebiet islamistischer Milizen darstellt. Gemeinsamkeiten aller Konflikte: tiefgreifende, langfristige Auswirkungen über die betroffene Region hinaus; Unfähigkeit oder Unwillen der sogenannten Staatengemeinschaft, nachhaltig und konstruktiv zu handeln.

Soviel zur Diagnose. Was könnte, was müsste getan werden?

4. Innere Erneuerung der Diplomatie
Der gegenwärtige modus operandi im diplomatischen Verkehr hinkt den Bedürfnissen ebenso wie den technischen Möglichkeiten digitaler Kommunikation hoffnungslos hinterher. Ja doch, der Ab- und Ausgleich nationaler Interessen in multilateralen Gremien ist notwendig, aber nicht länger um den Preis der Vernachlässigung konkreter Interessen der Gesellschaften und ihrer einzelnen Teile. In den Fokus gehört endlich die lebenspraktische Dimension, vorab die Bereitstellung grundlegender öffentlicher Güter für den täglichen Gebrauch: Sicherheit, Wasser, Arbeit, Mobilität. Zu gross bleibt die Distanz zwischen diplomatischer Ebene und konkreten Problemlösungen im Alltag.

5. Notwendigkeit systemischer Interventionen
Die heutigen regionalen und globalen Herausforderungen sind von einer Qualität, die sich über punktuelle Interventionen nicht adäquat aufnehmen lässt. Auftrag und Logik, Mittel und Programme einer einzelnen Organisation reichen nicht mehr aus. Wollen wir Probleme lösen, müssen wir funktionale Ausdifferenzierungen und das Denken in Silos überwinden oder zumindest: bewältigen. Partnerschaften, grenzüberschreitendes, Denken sind gefragt – auch und vor allem in der Politik. Die moderne Spezialisierung bringt enorme Vorteile, muss aber um den Blick auf das Ganze ergänzt werden.

6.  Innovationen in der Finanzierung globaler öffentlicher Güter
Ja doch, in manchen Situationen ist etwas Anderes als Nothilfe nicht möglich. Doch humanitäre Notfälle entwickeln sich immer häufiger zu Langzeitbaustellen. Punktuelle Interventionen müssen daher endlich ergänzt werden um Investitionen in längerfristige, nachhaltige Lösungsansätze. Solches Engagement verspricht bekanntlich keine Renditen in kurzer Frist; neue Finanzierungsinstrumente sind darum nötiger denn je. Ohne Risikogarantien seitens der öffentlichen Hand wird es nicht gehen, aber auch nicht ohne Investitionen aus Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft. Blended finance, social impact bonds: Wie sehen effektive Finanzierungsinstrumente von morgen aus? Wie können wir heutige Instrumente fortentwickeln? Auch und gerade eine Universität wie St.Gallen ist berufen, hier mitzudenken und voranzugehen.

7. Recht und Prinzipien
Wenn wir heute von den Problemen dieser Welt reden, dann reden wir am liebsten von Rechtsverletzungen, etwa des humanitären Völkerrechts oder von Menschenrechten. Die allgegenwärtige Rede von der Wirkungslosigkeit des Rechts ist gefährlich, weil eben dieses Recht dadurch schleichend seine Legitimation verliert, gesellschaftliche Prozesse tatsächlich anzuleiten. Ja doch, Verletzungen gibt es täglich und in grosser Zahl. Häufiger aber wird Recht respektiert. Warum ist das so? Wie können wir Compliance unterstützen? Wie kommen wir an einen Punkt, an dem rechtliche Regeln als Verpflichtung angesehen werden, nicht als blosse Einladung? – Umgekehrt: wie verhindern wir, dass blosse Prinzipien und Maximen in den Status von Recht erhoben werden? Unabhängigkeit oder Neutralität sind für die Schweiz wichtige Maximen, die Spielraum öffnen. Norm oder Maxime? Verpflichtung oder Spielraum? Wir müssen wieder besser differenzieren, inhaltlich wie begrifflich Sorgfalt üben, auch wenn es anspruchsvoll ist.

8. Keine Idealisierung von «Lokalisierung»
Heute scheint es einen Konsens darüber zu geben, dass Lokalisierung gut, Internationalisierung problematisch ist. Diese Sichtweise ist Peter Maurer zu einseitig. Ja doch, lokale Probleme werden idealerweise lokal gelöst; wer wollte das alt-bewährte Prinzip der Subsidiarität ernsthaft in Frage stellen. Allein, auch Krisenherde und Kriege sind häufig lokal bedingt. In solchen Fällen von aussen nichts zu tun, oder einfach Geld einzuschiessen, löst Probleme nicht, sondern verstetigt sie nur. Keine Handlung ohne Verantwortung, keine Ressourcen ohne Rechenschaftspflicht – und dazu braucht es gegebenenfalls Druck von aussen.

9. Zur Neutralität der Schweiz
Aus der Binnensicht des IKRK sind Prinzipien wie Neutralität, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit auch heute völlig unbestritten – auch oder gerade im humanitären Bereich. Ohne sie gefährdet man die eigene Sicherheit und verspielt überdies die Möglichkeiten, effektiv zwischen Konfliktparteien zu vermitteln. Mit Blick auf Staaten wie die Schweiz ist Neutralität weder eine unabänderliche Norm noch ein Selbstzweck. Sie hat einen funktionalen Wert, der je nach Umständen variiert. Was die Schweiz mit ihrer Neutralität tun und lassen soll: das sind politische Entscheide, die nicht einzelnen Personen zustehen, sondern über die relevanten Institutionen zu treffen sind.

10. Hoffnung
Was uns erwartet, ist nicht determiniert, sondern offen. Wir können etwas tun, wenn wir nur wollen. Mit Blick auf konstruktive Beiträge, auf die Verbesserung von Zuständen, auf die Umkehr unguter Entwicklungen brauchen wir nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern auch und gerade die Kärrnerarbeit an den Universitäten – die Suche nach Wahrheit, das Destillieren robuster Evidenz, und Räume für den kritischen, offenen Dialog. Und nicht zuletzt die Befähigung künftiger Absolvent:innen, auch selbst Verantwortung zu übernehmen.

Nur in einem Punkt mochte man dem Referenten so gar nicht folgen. Er werde «keine kohärente Weltsicht anbieten», hatte Peter Maurer zu Beginn seines Referats angekündigt. Was folgte, war aus einem Guss.

Bilder: Universität St.Gallen (HSG) / Hannes Thalmann

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