Hintergrund - 22.09.2016 - 00:00 

Ohne Ton

Am 22. und 23. September war das Café des Signes in der HSG-Mensa zu Gast. Die hörenden Gäste hatten die einmalige Gelegenheit, in die Kultur der Gehörlosen einzutauchen. Es wurde ein Kaffeeplausch in Gebärdensprache.
Quelle: HSG Newsroom

Vier Baristas, zwei Dolmetscher und der Organisator von Café des Signes in St.Gallen warten auf die ersten Gäste in der Mensa der Universität St.Gallen. Sie sprechen untereinander – Wortlaute erklingen jedoch nicht. Einzig «Ploppgeräusche» ertönen. Geräusche, die man hört, wenn die Lippen aufeinander treffen. Plopp, plopp, plopp. Die Personen verstehen sich trotzdem, denn sie gebärden. «Es ist wichtig, dass die Gebärden auch dem Mund ‹nachgesagt› werden», erklärt Barista Cristian. Deshalb die «Ploppgeräusche». Denn die Gebärdensprache ist die Verbindung von Gestik, Gesichtsmimik, Körperhaltung und lautlos gesprochenen Wörtern.

Sensibilisieren und Hemmschwellen abbauen

Das Café des Signes bildet den Auftakt zum Tag der Gebärdensprache in St.Gallen am 24. September. Eingeladen zum Kaffeeplausch in Gebärdensprache hat der Schweizerische Gehörlosenbund. «Das Café des Signes soll Menschen sensibilisieren und Hemmschwellen abbauen», sagt Christian Gremaud, der das Café in St.Gallen organisiert hat. «Die Universität St.Gallen ist dafür der ideale Ort. Studierende sind offen und neugierig.» Betreut wird das Café von gehörlosen Baristas: Corinne, Kathrin, Cristian und Marinus.

Die ersten Gäste kommen, meist in Gruppen. Langsam und zögerlich treten sie in den Nebenraum der HSG-Mensa ein. In ihren Augen erkennt man, was sie denken: «Wie spreche ich die Gehörlosen nun an?» In Sekundenschnelle nehmen die Barista die Hemmungen, zeigen auf ein Tablet. Es zeigt Kurzfilme mit Gebärden. Kaffee, Cappuccino, Espresso, Tee. Die Gäste versuchen die Handbewegungen nachzumachen. Fingerfertigkeit ist gefragt. Es klappt, es ist bestellt. Der Körper entspannt sich. Kaum haben sich die Gäste gesetzt, tritt Corinne an den Tisch. In der Hand das Tablet. Spielerisch werden die Gäste in Welt der Gehörlosen eingeführt. «Ahs» und «Ohs» erklingen. «Ist eigentlich logisch», sagt eine Studentin.

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Auch Gehörlose lernen Fremdsprachen
Corinne will Brücken bauen, die erste hat sie geschafft. Sie erzählt aus ihrem Leben, von Reisen und von Missverständnissen. Beim Erzählen ist sie sehr ausdrucksstark. Dabei ertönen keine «Ploppgeräusche», denn mit Hörenden spricht sie die Laute laut aus. Dank Lippenlesen und langsamer Sprechweise in Hochdeutsch versteht Corinne auch die Fragen der Gäste. Wie es sei auf Reisen, ob man die Sprache erlernen müsse. Corinne erzählt, dass sie gerne nach Italien reist. «Dort reden alle mit den Händen.»

Für die internationale Verständigung benutzen Gebärdende verschiedener Nationen häufig «International Signs». Künstliche Gebärden, die als «Verkehrssprache» erfunden wurden. Denn die Gebärdensprache hat sich wie die Lautsprachen in einer Sprachgemeinschaft entwickelt und die Gebärden unterscheiden sich. Von Sprache zu Sprache, von Dialekt zu Dialekt. Allein die Deutschschweizer Gebärdensprache kennt fünf regionale Dialekte: Zürich, Bern, Basel, Luzern und St.Gallen. So lernen Gehörlose Fremdsprache wie Hörende. Und benötigen dafür die gleiche Zeit. Schwierig sei vor allem Japanisch, erzählt Christian Gremaud. «In Japan unterscheiden sich die Gebärden komplett von den Gebärden anderer Nationen.» Als Beispiel nennt er die Gebärde für «Ich». Ist es üblich dafür mit dem Zeigefinger auf die Brust zu tippen, tippen sich Japanerinnen und Japaner auf die Nase.

«Gehörlose und Arbeit»
Am Tag der Gebärden in St.Gallen feiert der Schweizerische Gehörlosenbund ein Jubiläum. Er findet zum 25. Mal statt. «Da der erste Tag 1991 in St.Gallen stattfand, wollten wir zum Jubiläum wieder hierhin zurück», sagt Christian Gremaud. Mit dem Tag der Gebärden und der dazugehörigen Kampagne will der Schweizerische Gehörlosenbund daran erinnern, dass viele Gehörlose auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert werden. Trotz ihrer Fähigkeiten. In der Unternehmenswelt gäbe es nach wie vor viele Barrieren für Gehörlose. Dies beginne bereits beim Bewerbungsschreiben, erzählt Gremaud. «Gebe ich an, dass ich gehörlos bin, dann sinkt die Chance auf ein Bewerbungsgespräch gegen Null.» Wenn nicht, gäbe es eine Überraschung am Vorstellungsgespräch. Ein weiterverbreitetes Vorurteil sei, die Kommunikation klappe nicht. «Dabei können wir kommunizieren.» Hilfsmittel gibt es mittlerweile viele: E-Mail, SMS, Video-Telefonie, Dolmetscher. Und so kommen die Baristas aus den unterschiedlichsten Berufen. Corinne arbeitet als Kellnerin und Barfrau, Kathrin ist Dekorateurin, Cristian zeichnet Comics, und Marinus hat soeben seine Lehre als Fachmann Betriebsunterhalt abgeschlossen.

Personen mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung stehen im Studium besonderen Herausforderungen gegenüber. Dies hat auch Christian Gremaud erlebt. Er hat an der Université de Fribourg studiert, unter anderem mit Hilfe von Dolmetschern. «Da jedes Krankheitsbild unterschiedlich ist, klären wir zusammen mit der betroffenen Person, welche Bedürfnisse die Person hat», sagt Dr. Regula Dietsche. Sie betreut die Beratungsstelle Special Needs an der Universität St.Gallen. Seit Februar 2016 – seit es diese Stelle gibt – hat Dietsche rund 80 Beratungsgespräche geführt. Dabei zeigt sich, dass die Behinderungen und Erkrankungen sehr unterschiedlich sind: von Sehbinderungen über Depressionen bis hin zu Diabetes. Jede dieser Krankheiten benachteiligt die Person bei Prüfungen. Entsprechend benötigen sie nachteilsausgleichende Massnahmen. «Bei hörbeeinträchtigten oder gehörlosen Personen müsste man prüfen, welche Hilfsmittel sie für das Studium benötigen: Induktionsschleifen, einen Platz in der ersten Reihe, um Lippen zu lesen, oder ein Dolmetscher. Das schauen wir aber von Fall zu Fall an.»

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Ziel erreicht
Auch im Café des Signes sind zwei Dolmetscher unterwegs. Zwei von rund 70 Dolmetschern in der Deutschschweiz, die sich auf Gebärden spezialisiert haben. Sie helfen den Gehörlosen. Übersetzen deren Gebärden in Laute und umgekehrt. Simultan. Die Gäste sind sehr interessiert und wollen mehr aus der Welt der Gehörlosen erfahren. «Wie kann man die Gebärdensprache lernen?», fragt eine Studentin. Marinus drückt ihr einen Flyer in die Hand. Der Schweizerische Gehörlosenbund böte eine breite Auswahl von Kursen. Und auch das Online-Lexikon zeige viele Gebärden.

Allmählich sinkt die Neugier, wie es ist gehörlos zu sein. Erste, «allgemeine» Fragen tauchen auf. «Ob sie den schon mehr von der HSG gesehen hätten?» Die Baristas verneinen, die Studierenden bieten einen Rundgang an. Somit hat das Café des Signes sein Ziel erreicht: Brücken zwischen Gehörlosen und Hörenden zu bauen. Die Kommunikation funktioniert. Mit oder ohne Dolmetscher.

 

 

Anzahl Gehörlose in der Schweiz

 

In der Schweiz geht man von rund 10'000 vollständig gehörlosen Personen aus. Das sind 0,1 Prozent der Bevölkerung. Bis zu 600'000 Personen sind leicht bis hochgradig schwerhörig. Sie gelten als hörbehindert. Offizielle Zahlen gibt es keine, da die Schweiz keine Statistik zu Behinderungsarten erhebt.

 

 

 

 

In der Schweiz geht man von rund 10'000 vollständig gehörlosen Personen aus. Das sind 0,1 Prozent der Bevölkerung. Bis zu 600'000 Personen sind leicht bis hochgradig schwerhörig. Sie gelten als hörbehindert. Offizielle Zahlen gibt es keine, da die Schweiz keine Statistik zu Behinderungsarten erhebt.

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