Meinungen - 01.09.2022 - 00:00 

Michail Gorbatschow: Ein ambivalentes Vermächtnis

Mit Michail Gorbatschow ist eine der prägenden Gestalten des 20. Jahrhunderts gestorben. Sein Vermächtnis ist ambivalent. Ein Beitrag von Ulrich Schmid.
Quelle: HSG Newsroom

1. September 2022. Mit Michail Gorbatschow ist eine der prägenden Gestalten des 20. Jahrhunderts gestorben. Sein Vermächtnis ist ambivalent: In Deutschland wird er gefeiert, weil er die Wiedervereinigung ermöglicht hat. Die Staaten des ehemaligen Ostblocks verdanken ihm die Wiedererlangung der Souveränität. In Russland lehnt man ihn grösstenteils ab, weil sein Name für den politischen und wirtschaftlichen Niedergang der Sowjetunion steht. Gorbatschows Politik prägte die Epoche, die mit dem Mauerfall beginnt und mit dem Ukrainekrieg endet. Martin Aust, Andreas Heinemann-Grüder, Angelika Nussberger und Ulrich Schmid untersuchen diese Zeit in einem neuen Buch, das am 12. September erscheint.

Michail Gorbatschow stammt aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen. Er wurde 1931 in einem Dorf im Nordkaukasus geboren und wuchs in Südrussland auf. Er betonte immer wieder, dass sein Vater Russe und seine Mutter Ukrainierin gewesen sei. Später wurde er für seine provinzielle Aussprache des Russischen belächelt. 

Zum Rechtsstudium ging Gorbatschow nach Moskau. Als junger Mann wurde er zum überzeugten Stalinisten. Der Tod des sowjetischen Diktators im Frühjahr 1953 war für ihn ein erschütterndes Erlebnis, obwohl der Terror auch in seiner Familie gewütet hatte. In Gorbatschows Studienzeit fällt auch die Heirat mit Raissa Titarenko, die später als elegante und weltgewandte First Lady einen entscheidenden Anteil am internationalen Prestigegewinn der Sowjetunion haben sollte. Erst 2012 machte Gorbatschow auch eine private Tragödie öffentlich: Das junge Ehepaar musste das erste Kind abtreiben lassen, weil Raissa an einer gefährlichen Herzkrankheit litt. 1957 kam die Tochter Irina zur Welt. 

Nach dem Studium begann Gorbatschow eine steile Karriere im Parteiapparat. Es gelang Gorbatschow zu dieser Zeit, sich die Unterstützung des mächtigen KGB-Chefs Andropow und des konservativen Chefideologen Michail Suslow zu sichern. Bereits 1971 wurde er zum Vollmitglied des Zentralkomitees und gehörte damit zum inneren Kreis der Macht. Als hoher Parteifunktionär genoss er auch alle Privilegien der sowjetischen Elite. Er konnte ausgedehnte Reisen ins westliche Ausland unternehmen, nach Italien, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und in die Bundesrepublik Deutschland. 

In den achtziger Jahren stieg Gorbatschows Stern weiter. Die Führungsclique war nicht fähig, die Ineffizienz der sowjetischen Planwirtschaft zu bekämpfen. Gorbatschow musste zwar noch den Tod zweier greiser Generalsekretäre abwarten, die nur kurz im Amt waren. 1985 stieg er selbst in die höchste Führungsposition auf. Gorbatschow stoppte den ruinösen Rüstungswettlauf mit den USA. Innenpolitisch konzentrierte er sich auf ein wirtschaftliches Programm, dass die Produktion von Gütern «beschleunigen» sollte. Ausserdem forderte er «Glasnost», also Transparenz über politische und gesellschaftliche Missstände. Das berühmte Schlagwort der «Perestrojka» tauchte erst später auf und blieb auf seltsame Weise konturlos. Erst 1987 veröffentlichte Gorbatschow ein umfangreiches Buch über die «Perestrojka», in dem er sein Programm zu erklären versuchte. Allerdings klaffte ein grotesker Widerspruch zwischen seinem umfassenden Modernisierungsanspruch und den rückwärtsgewandten Reformvorschlägen, die von den leninistischen Prinzipien über die Vorzüge der Planwirtschaft bis hin zu der Führungsrolle der Kommunistischen Partei reichten. 

Letztlich wurde Gorbatschow zum Opfer seines eigenen Liberalisierungskurses. Seine grösste Illusion bestand darin, dass er bis zuletzt an die Reformierbarkeit des sozialistischen Gesellschaftssystems glaubte. Wie ein roter Faden zieht sich die Bewunderung für den Revolutionsführer Lenin durch seine Reden. Seinen Amtsantritt als Generalsekretär stellte er prominent unter das Zeichen von «Lenins Lehre», die er als «Handlungsanweisung» und «Kompass» bezeichnete. Sogar Lenins Forderung nach der Parteilichkeit der Presse und der Medien übernahm Gorbatschow ohne Änderungen. Ganz im Geiste Lenins hielt er auch die Nationalitätenfrage in der Sowjetunion für gelöst. 

Die Liste von Gorbatschows Versäumnissen und Fehleinschätzungen ist lang: Er pries die Roten Khmer als «kambodschanische Patrioten», er hob die Verbannung des Dissidenten Andrej Sacharow verspätet auf, er verurteilte nie die Niederschlagung des Prager Frühlings, er beteiligte sich aktiv an der Verharmlosung des Abschusses eines südkoreanischen Passagierflugzeugs, er wandte sich erst knapp drei Wochen nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in einer Fernsehansprache an die Bevölkerung, er verleugnete die Existenz des geheimen Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin Pakt. 

Gorbatschows historische Bedeutung liegt darin, dass er dem Kalten Krieg ein Ende setzte und das Auseinanderfallen der Sowjetunion nicht mit militärischer Gewalt stoppte. Er gab Russland eine Chance für eine demokratische, rechtsstaatliche und freiheitliche Entwicklung. Den russischen Überfall auf die Ukraine nahm er als Zerstörung seines Lebenswerks wahr.

Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St.Gallen.

Bild: KEYSTONE / DANIEL BISKUP/LAIF 

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