Meinungen - 19.10.2015 - 00:00 

Kontinuität oder Umbruch?

Argentinien wählt am 25. Oktober einen neuen Präsidenten. In einem Land, in dem die Menschen dem eigenen System, seinen Institutionen und der Währung ein gerüttelt Mass an Misstrauen entgegenbringen, täte der nächste Präsident gut daran, die wirtschaftlichen Probleme des Landes zu lösen. Ein Kommentar von Nicolas Matthieu und Angélica Rotondaro vom HSG Hub São Paulo.
Quelle: HSG Newsroom
the coast

$alt

20. Oktober 2015. Als sich die argentinischen Präsidentschaftskandidaten am 4. Oktober an der allerersten Fernsehdebatte ihres Landes trafen, sorgte die Abwesenheit Daniel Sciolis, des Kandidaten der Regierung, für die grösste Aufmerksamkeit unter den Zuschauern. Scioli war zuvor Vizepräsident des Landes gewesen. Er hatte sich entschlossen, nicht teilzunehmen, da er Anlässe dieser Art als unnötigen Austausch von Anschuldigungen betrachtete.

Wirtschaftliche Lähmung

Die Tatsache, dass der gegenwärtig von den Meinungsumfragen als Spitzenkandidat gehandelte Scioli diese Debatte ausliess, zeugt indes von der tiefen Fallgrube der politischen Polarisierung und der wirtschaftlichen Lähmung, in der sich Argentinien zur Zeit befindet. Jorge Lanata, ein beliebter Talkmaster und scharfer Kritiker der gegenwärtigen Regierung, brachte es auf den Punkt: «Auf einem Stuhl haben nicht zwei Platz.»

Seit es klar wurde, dass die jetzige Präsidentin des Landes und Gattin des verstorbenen Néstor Kirchner, Cristina Fernández de Kirchner, trotz den Versuchen ihrer Verbündeten zur Verfassungsänderung kein drittes Mal antreten würde, hat das Rennen um die Präsidentschaft die Form einer Abstimmung über Kontinuität oder Umbruch angenommen.

Die Kandidaten

Gemäss den neuesten Meinungsumfragen ist der Kandidat der Regierung, Daniel Scioli (Frente para la Victoria – Front für den Sieg), der bei den Wählerschaft beliebteste Anwärter. Scioli ist ein enger Vertrauter des Führungszirkels der Kirchners und steht deshalb für Kontinuität. Zuvor war er Vizepräsident des Landes in der Regierung von Néstor Kirchner gewesen; derzeit ist er Gouverneur der Provinz Buenos Aires.

Der gegenwärtig zweitplatzierte Kandidat ist der Hoffnungsträger der Opposition, der Mitte rechts politisierende Mauricio Macri (Cambiemos – Lasst uns den Wandel herbeiführen). Er ist Sprössling einer politisch einflussreichen Familie und zur Stunde Bürgermeister von Buenos Aires. Im aufstrebenden dritten Rang befindet sich der langjährige Favorit der Mittelklasse, Sergio Massa (Frente Renovador – Front der Erneuerung).

Um im ersten Wahlgang gewählt zu werden, benötigt ein Kandidat 45% der Stimmen. Wie es heute aussieht, werden die Präsidentschaftsanwärter am 22. November in einer zweite Runde gegeneinander antreten müssen.

Argentinien unter den Kirchners

Wenn die Argentinier zur Urne strömen, werden sie wiederholt an die schwierigen letzten zehn Jahre ihres Landes erinnert. An fast jeder Ecke der Avenida Florida, der wichtigsten Einkaufsstrasse von Buenos Aires, stösst man auf einen der Arbolitos, der theoretisch illegalen, aber florierenden Währungshandelsstände, die den argentinischen Peso zum als «Dólar Blue» bekannten Schwarzmarktpreis anbieten. Als der Big Mac vor ein paar Jahren auf einmal nicht mehr so auffallend beworben oder zu einem niedrigeren Preis als die anderen, einfacheren Hamburger in den vielen McDonald’s-Restaurants verkauft wurde, stellte sich heraus, dass dies kaum etwas mit argentinischer Abneigung gegen die amerikanische Essenskultur zu tun hatte. Es wurde gemunkelt, dass die Regierung versucht hatte, den weltberühmten Index des «Economist» zur Messung der Kaufkraftparität über die Landesgrenzen hinweg auszutricksen.

Dies sind nur wenige der vielen Andenken an die Epoche der Kirchner’schen Wirtschaftspolitik, eines Paradebeispiels von «Viveza criolla», einem argentinischen Begriff für den Glauben, man könne nach den eigenen Regeln spielen anstatt sich an jene der übrigen Welt halten zu müssen. Massive staatliche Interventionen, Devisenbewirtschaftung und ein rigoroses Vorgehen gegen Importe waren die Markenzeichen des Regierungsprogramms zur Stabilisierung der Wirtschaft und zur Bremsung der Inflation. 2011 wurde ruchbar, dass der deutsche Autohersteller Porsche gezwungen wurde, Malbec – einen argentinischen Rotwein – zu exportieren, um im Gegenzug seine Luxusautos importieren zu können.

Während viele Teile der argentinischen Gesellschaft im Laufe des vergangenen Jahrzehnts von den grosszügigen Staatszuschüssen und der Aufstockung der Sozialhilfeprogramme profitierten, stieg das Haushaltdefizit auf rund 5% des BIP an. Die zeitweiligen Streitigkeiten mit dem IWF über die angebliche Verfälschung der Inflationsstatistiken und die vertrackte Lage mit den «ausharrenden» Haltern von Staatspapieren – auch als «Geierfonds» bezeichnet – war der allgemeinen Situation auch nicht gerade zuträglich.

Allerdings übernahm der verstorbene Néstor Kirchner das Land 2003 in einer schwierigen Lage. Zwei Jahre zuvor musste der frühere Präsident Fernando de la Rúa per Helikopter fliehen, weil der Präsidentenpalast von aufgebrachten Demonstranten belagert wurde. Vor einem Jahr schien Cristina Fernández de Kirchner jedoch auch kurz davor, einen Hubschrauber zu besteigen. Argentinien konnte seinen Verpflichtungen gegenüber den ausländischen Gläubigern einmal mehr nicht nachkommen. Während die Devisenreserven auf den niedrigsten Stand seit acht Jahren abstürzten und die Inflation die Rekordmarke von 40% erreichte, wurde der Peso an den Arbolitos der Avenida Florida für rund die Hälfte des offiziellen staatlichen Wechselkurses gehandelt.

Seither haben sich die Reserven erholt und die Inflation hat abgenommen. Dank einem Währungsswap mit China und der Ausgabe von in USD ausgestellten Anleihen nahm die Regierung anfangs Jahr rund CHF 7 Mia. ein. Zusammen mit anderen Massnahmen schien dies die allgemeine Situation zu beruhigen.

Unsichere Wahlergebnisse
Doch jetzt, da die Unsicherheiten bezüglich des Wahlergebnisses zunehmen und die Siegeschancen der Opposition schwinden, schwächte sich der Peso an der Avenida Florida diesen Monat auf den niedrigsten Wert dieses Jahres ab. Es wird erwartet, dass die Wirtschaft 2015 um rund 0.3% schrumpft.

In einem Land, in dem die Menschen dem eigenen System, seinen Institutionen und der Währung ein gerüttelt Mass an Misstrauen entgegenbringen, täte der nächste Präsident gut daran, die wirtschaftlichen Probleme des Landes zu lösen und das gesellschaftliche Klima zu entpolarisieren. Fernsehdebatten dienen schliesslich als Plattform und vermitteln der Wählerschaft eine Gelegenheit, die Kandidaten untereinander zu vergleichen und jenen zu wählen, der das Potenzial des Landes am besten freizusetzen vermag. Nach zwölf Jahren mit den Kirchners an der Macht sollten die Argentinier diese Chance verdient haben.

Bild: Photocase / 50Centimos

north