Hintergrund - 20.10.2017 - 00:00
20. Oktober 2017. Die heutige Europäische Union unterscheidet sich nicht nur in ihrer wirtschaftlichen und politischen Bedeutung, sondern auch rechtlich wesentlich von den «klassischen» internationalen Organisationen, in denen sich die Staaten seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zusammengeschlossen haben, um bestimmte Zwecke gemeinsam effektiver zu verfolgen. Ein zentrales Unterscheidungsmerkmal ist die Rechtsbeziehung des einzelnen Bürgers zu einer überstaatlichen Organisation. Im Falle der «klassischen» Organisationen – wie den Vereinten Nationen oder dem Europarat – fehlt es an einer unmittelbaren Beziehung zwischen Organisation und Individuum: Die Organisation kann mit ihren Rechtsakten nur ihre Mitgliedstaaten verpflichten und berechtigen, nicht aber deren Bürgerinnen und Bürger. Die Rechtsakte der Organisation müssen von den Mitgliedstaaten erst in ihrem nationalen Recht umgesetzt werden; als nationales Recht werden sie für die Bürger verbindlich.
Bürger und Staaten sind Rechtsträger der EU
Dagegen kennzeichnet das EU-Recht seit seinen Anfängen in der Zeit der Europäischen Gemeinschaften die Möglichkeit seiner «unmittelbaren Geltung»: Das Unionsrecht kann unmittelbar – ohne Vermittlung der Mitgliedstaaten – Rechte und Pflichten von Einzelnen begründen, auf die sich diese vor nationalen und europäischen Gerichten berufen können. In seinem grundlegenden Urteil im Fall van Gend & Loos von 1963 hat der Europäische Gerichtshof betont, das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes betreffe «die der Gemeinschaft angehörigen Einzelnen unmittelbar»; der Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sei «mehr als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den vertragschliessenden Staaten begründet». Die Gemeinschaft sei vielmehr «eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts, zu deren Gunsten die Staaten … ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind».
Dieses Grundkonzept betonte auch der erste Artikel des Verfassungsvertrags von 2004: «Geleitet von dem Willen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, begründet diese Verfassung die Europäische Union …». Auch wenn dieser Vertrag nicht in Kraft getreten ist, beschreibt die Formulierung zutreffend die Dualität der Rechtsträgerschaft der EU: Träger der EU sind die Bürger und die Staaten der Union. Schon in der Gründungsphase der EG sahen Rechtsgelehrte wie der deutsch-amerikanische Jurist Wolfgang Friedmann darin ein mögliches innovatives Beispiel für andere Regionen der Welt und einen Aspekt einer sich grundsätzlich wandelnden Völkerrechtsordnung.
Stärkung der Unionsbürgerschaft
In der Folgezeit hat das EU-Recht die Stellung der Bürgerinnen und Bürger schrittweise verstärkt: Mit dem Vertrag von Maastricht (1992) wurde die Unionsbürgerschaft geschaffen, die zur jeweiligen nationalen Staatsangehörigkeit hinzutritt. Sie gewährt unter anderem das Recht, sich in der ganzen EU frei zu bewegen und aufzuhalten, sowie das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei Kommunalwahlen am Ort des Wohnsitzes. Der Vertrag von Lissabon (2007) hat die in der Charta der Grundrechte der EU proklamierten Grundrechte und Grundfreiheiten der Unionsbürger für diese unmittelbar geltend gemacht.
EU verteidigt Position ihres Mitgliedstaates Spanien
In der Katalonien-Krise dieses Herbstes hat die EU jedoch bisher ihre Probe als «Bürgerunion» nicht bestanden. Von einer «neuen Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte auch die Einzelnen sind», ist, soweit die Katalanen betroffen sind, nichts zu sehen, von den Rechten und Interessen der 7,5 Millionen Unionsbürger in Katalonien nicht die Rede. Stattdessen verteidigt die EU wie eine internationale Organisation alten Stils allein und kompromisslos die Positionen ihres Mitgliedstaates Spanien. Für die Katalanen hat Brüssel nur Drohungen und Warnungen übrig. Seit der Amtszeit von José Manuel Barroso wiederholt die EU-Kommission phrasenhaft, im Falle einer Unabhängigkeit von Spanien werde Katalonien «automatisch» aus der EU und aus dem Euro-Währungsraum ausscheiden und müsse sich «wie jeder andere Staat» um eine neue Mitgliedschaft bewerben, obwohl die EU-Verträge den Fall der Trennung eines Gebiets von einem Mitgliedstaat gar nicht regeln. «Automatisch» soll damit auch der Verlust der Unionsbürgerschaft der Bevölkerung Kataloniens eintreten. Zwischen den Zeilen steht drohend: Zu einer neuen Mitgliedschaft Kataloniens wird es nicht kommen, weil sie der Zustimmung aller EU-Staaten bedarf, von Spanien also verhindert werden kann und wird.
Verteidigung der «Herrschaft des Rechts»?
Am 2. Oktober 2017 nannte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker das katalanische Unabhängigkeitsreferendum vom Vortag «rechtswidrig nach der spanischen Verfassung». Es handele sich um eine «innere Angelegenheit Spaniens, mit der gemäss der Verfassungsordnung Spaniens umgegangen werden muss». Zwei Tage später fügte der Erste Vizepräsident der Kommission Frans Timmermans vor dem Europäischen Parlament hinzu, es sei die Verpflichtung jeder Regierung, die «Herrschaft des Rechts» zu verteidigen – auch mit Einsatz von Gewalt, soweit diese verhältnismässig sei. Er billigte damit den Einsatz der spanischen Polizei am Tag des Referendums, bei dem mehr als achthundert Personen verletzt wurden. Der Präsident des Europäischen Parlaments, Antonio Tajani, dankte der Kommission für ihre «klare Haltung». Im Namen der Parlamentsmehrheit erklärte er, «einseitige Entscheidungen, einschliesslich von Unabhängigkeitserklärungen» widersprächen der europäischen Rechtsordnung. Der prominente Europaabgeordnete Elmar Brok nannte das Referendum einen «Rechtsbruch» und warnte: «Die Katalanen müssen wissen, was auf sie zukäme», falls sie tatsächlich ihre Unabhängigkeit erklären würden.
Hat das EU-Recht zu Katalonien nichts zu sagen?
Für die EU-Kommission ist im Katalonien-Fall die «rule of law» identisch mit dem spanischen Recht. Das EU-Recht, dessen Vorrang vor dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten (unter Einschluss des Verfassungsrechts) die Kommission sonst nicht müde wird zu betonen, wird als Massstab gar nicht in Betracht gezogen. Hat das vielbeschworene europäische Verfassungsrecht zu den Vorgängen in Katalonien gar nichts zu sagen? Bietet der europarechtlich gebotene Schutz der Grundrechte und Freiheiten aller EU-Bürger sowie der Rechte nationaler Minderheiten keinerlei Anhaltspunkte? Wie verhält es sich mit dem Subsidiaritätsprinzip, dessen Bedeutung auch «auf regionaler oder lokaler Ebene» Artikel 5 Absatz 3 des EU-Vertrags hervorhebt, oder mit dem Ziel der Union, den «Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt» zu wahren (Artikel 3 Absatz 3 des EU-Vertrags)? Welche europarechtliche Relevanz hat der Status Kataloniens als Region, deren Vertreter dem Ausschuss der Regionen der EU angehören? Schliesst die Eigenverpflichtung der EU auf das Völkerrecht und die UN-Charta nicht auch die Achtung des Rechts der Völker auf Selbstbestimmung ein? Sieht das EU-Recht eine Sanktionierung von Unionsbürgern vor, die sich für die Unabhängigkeit ihrer Region und zugleich für deren fortgesetzte Zugehörigkeit zur EU einsetzen?
Bürgerunion nur eine brüchige Fassade?
Die Botschaft aus Brüssel ist eindeutig, und sie wird nicht nur in Katalonien zur Kenntnis genommen werden: In einem politischen Konflikt von EU-Bürgern mit dem eigenen Staat hat die Unionsbürgerschaft keinen eigenen Wert. Die unmittelbare Rechtsbeziehung der Bürger zu «ihrer» Union hat hinter das Recht des Mitgliedstaates zurückzutreten, der Panzer der nationalstaatlichen Souveränität wird wiederhergestellt. Wer sich dem nationalen Recht nicht fügt, wird aus dem «Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts», den die EU zu bilden behauptet, ausgeschlossen, mag er sich noch so sehr zu Europa bekennen. Erweist sich die europäische Bürgerunion, auf eine echte Probe gestellt, also nur als eine brüchige Fassade? Geht es im Ernstfall eben nicht um die Bürgerinnen und Bürger, sondern um die staatlichen Interessen oder, wie es in der Gründungsakte des Deutschen Bundes von 1815 hiess, um «die Ruhe und das Gleichgewicht Europas»? Die Katalonien-Krise des Jahres 2017 könnte für die Zukunft der EU als Rechtsgemeinschaft bedeutender sein, als man dies gegenwärtig in Brüssel und Strassburg zu realisieren scheint.
Prof. Dr. Bardo Fassbender lehrt Völkerrecht, Europarecht und Öffentliches Recht an der Universität St.Gallen.
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