Meinungen - 07.04.2014 - 00:00 

Indiens Tanz mit der Demokratie

In Indien, der grössten Demokratie der Welt, sind 814 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, das 543 Sitze zählende Unterhaus neu zu bestellen. Ein Machtwechsel wird mit Spannung erwartet. Politikwissenschaftler Hans Christian Baumann beobachtet die Wahlen in Indien.
Quelle: HSG Newsroom

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8.April 2014. Vom 7. April bis zum 12. Mai finden die Wahlen für die Lok Sabha, das indische Unterhaus, statt. Um die Durchführung und Sicherheit der Wahlen in insgesamt 930`000 Wahllokalen sicherstellen zu können, wird während einer Periode von fünf Wochen an insgesamt neun Tagen gewählt. Die Neue Zürcher Zeitung bezeichnete die Wahlen als «grösste demokratische Übung der Welt».

Die hinduistisch-nationalistische Opposition dürfte als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorgehen. Wer in den Regierungspalast in Delhi einziehen wird, bleibt jedoch unklar. Die Bildung einer stabilen Koalitionsregierung dürfte sich schwierig gestalten.

Opposition im Vorteil

Gemäss Umfragen dürfte die oppositionelle Bharatiya Janata Partei (BJP) am meisten Parlamentssitze gewinnen. Ihr charismatischer Kandidat fürs Premierministeramt, Narendra Modi, hat sich in der Partei eine solide Führungsposition gesichert. Der Wahlkampf ist auf ihn zugeschnitten worden. Modi stammt aus bescheidenen Verhältnissen und gilt als wirtschaftsfreundlich. Als Chefminister von Gujarat wird ihm der wirtschaftliche Aufschwung in diesem Gliedstaat gutgeschrieben.

Der 64-jährige gilt als starke Führungspersönlichkeit. Religiöse Minderheiten sowie die regionalen Linksparteien sehen in Modi allerdings eine Gefahr für die Demokratie. Der Nationalist wird für rassistisch motivierte Pogrome gegen Muslime im Jahr 2002 in Gujarat mitverantwortlich gemacht. Damals – Modi war bereits Chefminister – wurden über tausend Menschen umgebracht.

Die Kongresspartei, die seit 2004 die Regierung stellt, wird in den Wahlen Federn lassen müssen. Ihr greiser Premierminister, Manmohan Singh, steht für eine weitere Amtsperiode nicht zur Verfügung. Als neuer Spitzenkandidat und Parteiführer hat die italienischstämmige Chefin der Kongresspartei, Sonia Gandhi, ihren 44-jährigen Sohn Rahul installiert. Dieser Schachzug dürfte sich als kontraproduktiv herausstellen. In einem weit beachteten Fernsehinterview wurde Rahul Gandhi im Januar blossgestellt. Der Vertreter der vierten Generation der Nehru-Gandhi-Politdynastie blamierte sich derart, dass er den Wahlkampf seither ausschliesslich aus dem Hintergrund zu steuern versucht.

Wirtschaftliche Stagnation und Reformstau

Die Kongresspartei erscheint ideenlos, ausgelaugt und führungsschwach. In Delhi wird man den Eindruck nicht los, sie habe sich mit ihrer drohenden Niederlage bereits abgefunden. Die Partei wird für die stagnierende Wirtschaftsentwicklung während der letzten Legislaturperiode, für die hohe Inflation und die grassierende Korruption in Politik und Verwaltung verantwortlich gemacht. Dennoch dürfte sie eine landesweit bedeutende politische Kraft bleiben. Vielen Indern, insbesondere den Minderheiten, erscheint die Partei als einzige Garantin eines säkularen Staatswesens. Überdies dürfte es der Kongresspartei leichter fallen als der vor allem im Norden des Landes verankerten BJP, Koalitionspartner zu gewinnen.

Die Regionalparteien haben in den vergangenen fünfzehn Jahren zusehends an Einfluss gewonnen. Auch die erst vor einem Jahr gegründete Antikorruptionspartei Aam Aadmi Party (Partei des einfachen Mannes) dürfte in den Wahlen eine ernst zu nehmende Rolle spielen. Diese Parteien werden bei der Bildung einer Regierungskoalition ausschlaggebend sein, da weder die BJP noch die Kongresspartei eine absolute Mehrheit erreichen werden.

Die Zusammensetzung der künftigen Regierung ist unberechenbar. Das Zusichern von Ministerposten und die Förderung regionaler Interessen sind bei Koalitionsverhandlungen entscheidend. Plötzliche Seitenwechsel und undurchsichtige Manöver der Parteispitzen gehören genauso zur politischen Kultur Indiens wie der Stimmenkauf. Eine stabile Koalition scheint alles andere als gewiss. Selbst baldige Neuwahlen sind ein durchaus realistisches Szenario.

Bild: Photocase / Gisa

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