Meinungen - 23.08.2012 - 00:00 

Hundert Tage François Hollande

Begleitet von grossen Erwartungen hat François Hollande am 15. Mai Amt und Würde übernommen. Ob seither alles anders ist? Nicht wirklich, schreibt HSG-Politikprofessor Christoph Frei in seinem Kommentar.<br/>
Quelle: HSG Newsroom

$alt

23. August 2012. Unentwegt hatte der sozialistische Kandidat versprochen, als Präsident mit dem Stil seines Vorgängers zu brechen. In Teilen mag ihm dies gelungen sein – auch in trivialen Teilen. «Mit dem Zug fährt er nach Brüssel!» Seit Wochen sind die Medien auf Unterschiede fokussiert; Neues verkauft sich offensichtlich besser. Auch und gerade vom Gewohnten aber hat man bisher viel gesehen. François Hollande erweist sich als zuverlässig sozialisierter Teil jener Elite, die Frankreich seit langem nach dem gleichen Muster führt.

Neue Führungsriege im Amt
Den Erwartungen entsprechend, hat der neue Präsident eine kleine Auswahl symbolträchtiger Versprechungen aus dem Wahlkampf eingelöst, wenn auch mit Zusatzklauseln im Detail. Den Erwartungen entsprechend, hat er ausgewählte Reformen seines Vorgängers kassiert. In Entsprechung zur Logik des politischen Systems rollen allerorten Köpfe. Fast täglich werden hinter den Kulissen Personen ausgetauscht – hier der Präfekt der Pariser Polizei, dort der Direktor einer Stiftung im Kulturbereich. Ob an der Spitze von Verwaltungszweigen, ob in staatlich kontrollierten Instituten, Unternehmen und Agenturen: Sarkozys Leute müssen gehen, Leute eigenen Vertrauens werden installiert. Nichts daran ist neu, nichts daran ist aussergewöhnlich.

Kommt der neue Staatschef – wie im vorliegenden Fall – aus einer anderen politischen Familie als der alte, gesellt sich ein weiteres Element zur gängigen Prozedur in der Übertragung von Macht. Einmal installiert, beauftragt die neue Regierung den Rechnungshof, über die Bücher zu gehen. Die unter den Vorzeichen höchster Priorität zutage geförderten Zahlen variieren, der Befund indes ist stets der gleiche: der Zustand der öffentlichen Finanzen ist noch bedenklicher als vormals ausgewiesen!

All dies hat Tradition. Wie sonst als in kleinen Schritten wäre der steile Weg von den Höhen politischer Wahlkampfrhetorik hinab in die Niederungen des politischen Alltags zu meistern? Dieser Übergang ist stets riskant; er will bestmöglich verwaltet sein.

Denken, reden, Zeit gewinnen
Zu den bewährten Techniken der ersten hundert Tage gehören schliesslich neu bestellte Gremien: Räte, Reflexionsgruppen, Kommissionen. In kürzester Zeit hat François Hollande in dieser Sparte das erste Dutzend vollgemacht – Rekord in der Fünften Republik. Mit Pauken und Trompeten angekündigt, bestückt mit Persönlichkeiten zuverlässiger Gesinnung, sollen Gremien dieser Art der Regierung offiziell dabei helfen, altbekannte Probleme neu zu vermessen, soziale und ökonomische Zustände neu zu analysieren, Diagnosen ebenso wie Therapien neu zu formulieren.

Lässt man die gestelzten Bezeichnungen und Mandate solcher Kommissionen auf sich wirken, fällt es schwer, in der Sache den Durchblick zu wahren. Lionel Jospin zum Beispiel ist berufen, im Verbund mit einer stattlichen Zahl von Mitstreitern nichts weniger zu bedenken als „die Deontologie und Renovation des öffentlichen Lebens in Frankreich.“

Zurück in die Zukunft
Wo auf höchstem Niveau reflektiert, debattiert und abgewogen wird, lassen sich politische Entscheidungen vertagen. Auch dieser frischgebackene Präsident muss Zeit gewinnen – er, der seinen Landsleuten pausenlos Veränderungen «ohne Verzug» versprochen und den eigenen Wahlkampf schliesslich unter dieses Motto gestellt hatte: «Le changement, c’est maintenant.» Auch ihm sitzt die Ungeduld der öffentlichen Meinung nunmehr im Nacken.

Und wohin geht die Reise? Der unausgesprochene Vertrag zwischen dem Sozialisten François Hollande und seiner Wählerschaft lässt sich auf eine bemerkenswert konservative Formel verdichten: Vieles soll sich ändern, auf dass vieles werden kann, wie es einmal war. Diese Vorgabe überragt alles andere. Sie zielt darauf, die französische Nation in ihrem sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Besitzstand zu verteidigen – gegen die Globalisierung, gegen den Primat der Ökonomie. Relevante Rahmenbedingungen: chronische Überschuldung beim Staat, stark überhöhte Lohnnebenkosten in der Wirtschaft, und allerorten kampfbereite Anspruchsgruppen. Bonne chance, Monsieur le Président.

Bild: Photocase / Hunfi

north