Meinungen - 18.09.2014 - 00:00 

Grossbritanniens reife Art

Unabhängig davon, wie die Abstimmung in Schottland ausgehen wird: Eine Sezession löst keine gesellschaftlichen Probleme, schreibt HSG-Völkerrechtsexperte Thomas Burri in seinem Meinungsbeitrag. An die Schaffung eines neuen Staates dürfe man keine übertriebenen Erwartungen knüpfen.
Quelle: HSG Newsroom

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18. September 2014. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Schottland befinden diese Woche über die Auflösung der Jahrhunderte alten Vereinigung mit Grossbritannien. Es ist interessant zu beobachten, wie reif die Britinnen und Briten mit der «dornigen Angelegenheit» umgehen. Die britische Regierung hat sich dem Anliegen einer Abstimmung nicht grundsätzlich entgegen gestellt. Rechtzeitig wurde ein Kompromiss erzielt. Mittlerweile halten sich befürwortende und ablehnende Kräfte die Waage – es wäre jedoch falsch, der Regierung deshalb vorzuwerfen, sie habe sich politisch verkalkuliert. Die Regierung war sich wohl im Klaren darüber, dass ein Sezessionsanliegen umso mehr Unterstützung erhält, je stärker die Klärung der Frage durch das betroffene Volk verhindert wird.

Ein Blick nach Kanada und Spanien

In Grossbritannien hat man offensichtlich den kanadischen obersten Gerichtshof verstanden. Dieser las im Jahr 1998 die kanadische Verfassung so, dass ein deutliches «Ja» Quebecs zu einer Abspaltung von Kanada die Pflicht aller Beteiligten auslöst, die Sezession in guten Treuen zu verhandeln. Man kann nur hoffen, dass die Bestätigung dieses Ansatzes durch Schottland einen übergreifenden – vielleicht westlichen – Weg entsteht lässt, wie mit dem Sezessionsanliegen eines Bevölkerungsteils umzugehen ist.

Im Gegensatz zu Grossbritannien überhört man jedoch in Spanien die Botschaft des kanadischen Gerichtshofs. Dadurch füttert man diejenigen, welche die Sezession von Spanien betreiben. Die spanische Verfassung wird vergeblich vorgeschoben. Denn eine Sezession hat fast zwingend eine revolutionäre Dimension, geht mit ihr doch notwendigerweise die Aufkündigung der Verfassung einher.

Sezession als absolute Idee
Wie reif die britische Vorgehensweise ist, zeigt ein Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, die Mehrheit der Bevölkerung eines Kantons, etwa Schaffhausen oder Jura, möchte sich von der Schweiz lösen. Wäre Ihre Reaktion nicht auch bloss ein leicht befremdetes Achselzucken? Wenn aber der Kanton Zürich dasselbe Anliegen verfolgen würde – wären Sie dann immer noch so gleichgültig? Sezessionsanliegen entzünden sich meist an absoluten Ideen, zum Beispiel der Abschaffung der Sklaverei oder an Glaubenskonflikten.

Der eine Bevölkerungsteil weigert sich, der verfassungsmässigen Ordnung Folge zu leisten. Beispielhaft male man sich aus, etwa der Kanton Genf wolle die Schweiz verlassen, weil er einen Gottesstaat einrichten möchte; oder etwa Basel Stadt sei nicht bereit, der Europäischen Union fern zu bleiben. Unter Umständen würde eben die Aufkündigung der finanziellen Solidarität schon ausreichen, um die Gemüter zu erhitzen – wenn sich also der reiche Teil des Landes (Zürich) verabschieden möchte. Ist etwa die freie Sezession ein Privileg der Armen? Wie dem auch sei – diese Beispiele zeigen, wie schwer eine Sezession zu ertragen sein kann – und wie reif die Art der Briten und Britinnen ist.

Hohes Ideal der Unabhängigkeit  

Unabhängig davon, wie die Abstimmung in Schottland ausgehen wird: Eine Sezession löst keine gesellschaftlichen Probleme. Nicht, dass die schottische Sezession dadurch illegitim würde (so es denn eine wird); nur darf man an die Schaffung eines neuen Staates keine übertriebenen Erwartungen knüpfen. Sei es eine Überschuldung, fehlende Kohäsion, oder eine Überalterung der Gesellschaft, ein neuer Staat alleine löst sie alle nicht.

Eine Sezession schafft – wie die meisten anderen territorialen Ansätze – manchmal sogar neue Probleme. So kann sich eine durch neue Grenzen «entstandene» Minderheit plötzlich unwohl fühlen, wie es etwa in Mitrovica, im Norden Kosovos, geschah. Wie viele Vorteile bieten da doch Ansätze, die beim Menschen ansetzen, nicht beim Boden. Wie das aussehen könnte, habe ich am Beispiel der Rätoromaninnen und Rätoromanen dargelegt («Der Romanenstaat», NZZ, 6. August 2014).

Schwer zu bewertende Abstimmungen 

Angesichts der jüngsten Entwicklungen fragt sich, wie zwischen Schottland und der Krim zu unterscheiden ist. Schliesslich wurde, beziehungsweise wird an beiden Orten abgestimmt. Warum sind wir bereit, den schottischen Ausgang des Sezessionsgedankens zu akzeptieren, nicht aber denjenigen auf der Krim? Liegt es bloss an der fehlenden Zustimmung der Ukraine, am unmittelbar erfolgten Beitritt zu Russland? Können wir, die wir in der Schweiz so viel Erfahrung mit Volksabstimmungen haben, wirklich unterscheiden zwischen «guten» und «schlechten», weil konstruierten Abstimmungen?

Bild: Photocase / eyelab

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