Hintergrund - 16.06.2021 - 00:00 

Familienrechtsreform: Gesellschaftlicher Wandel erreicht das Gesetz

Eine Zeitzeugin berichtet, wie sie die Familienrechtsreform von 1988 erlebt hat. Ihre Geschichte zeigt, dass das Gesetz keine soziale Veränderung auslöste, sondern vielmehr dem vorausgegangenen gesellschaftlichen Wandel Rechnung trägt. Von Kim Bauer.
Quelle: HSG Newsroom

16. Juni2021. «Ich hatte nie das Gefühl, fremdbestimmt zu sein», sagt Elisabeth Illien. Auf dem Papier sei die Frau dem Mann zwar bis 1988 ungeordnet gewesen, aber das echte Leben sah anders aus. Bis zur Reform stand zum Beispiel im Gesetz, dass Frauen allein keine grossen finanziellen Entscheide treffen und nur mit Einwilligung des Ehemannes eine Stelle annehmen dürfen. Die Reform wird deshalb als Meilenstein der Gleichstellung bezeichnet. Für die 71-jährige Ladenbesitzerin ist diese Darstellung nur die halbe Wahrheit, weil sie dem Gesetz eine zu grosse Rolle gibt. Gerade für junge Leute wirke es so, als ob das Gesetz sie stark eingeschränkt habe.

Unterschiedliche Welten

Das Leben der Bündnerin zeigt, dass die Gesellschaft Frauen mehr Möglichkeiten bot, als oft angenommen wird. 1989 hat sie mit ihrer Schwägerin in der Churer Altstadt den Scarnuz gegründet, ein Geschäft für Geschenkartikel, nachdem sie mehrere Jahre als Drogistin gearbeitet hatte. Bei einem Früchtetee im Café gegenüber des Scarnuz’ berichtet sie von ihrer Erfahrung und will von Benachteiligung nichts hören. «Es war gar kein Thema, ob Mann oder Frau einen Laden eröffnet» – tatsächlich waren damals die Mehrheit der Geschäfte in Frauenhand. Sie zeigt auf die Geschäfte ringsum und erinnert sich an die damaligen Inhaberinnen. Nur einen Mann nennt sie, der in der Nähe Herrenmode verkauft hat. «Wir waren voll akzeptiert», sagt sie mit Überzeugung. Wie als Beweis fügt sie an, dass sie selbst bereits nach einem Jahr in den Vorstand der Interessengemeinschaft Altstadt Chur gewählt wurde. Von Ausgrenzung und Benachteiligung keine Spur.

Die Aussagen der Zeitzeugin stehen im Kontrast zur Darstellung von Frauenverbänden, offiziellen Dokumenten und Aufnahmen aus dem Abstimmungskampf. In einem Rückblick der Eidgenössische Kommission für Frauenfragen (EKF) wird das neue Eherecht zum Beispiel in die «Meilensteine der Gleichstellung» aufgenommen. SRF-Interviews mit Politiker:innen von 1985 zeigen, wie die Konservativen die Reform als zu radikal bekämpften. Sie halten am Rollenbild der Frau als Hausfrau und Mutter fest, das noch bis 1988 im Gesetz steht. Die Positionen im Abstimmungskampf zeigen, dass sich das moderne Frauenbild in der Politik noch nicht durchgesetzt hatte. Offenbar konnte die Politik die gesellschaftlichen Veränderungen nicht sehen, die Elisabeth Illien beschreibt.

«Wir waren glücklich, Hausfrauen und Mütter zu sein.»

Für die stets elegant gekleidete Unternehmerin wird die damalige Zeit von der heutigen Generation als negativer interpretiert als sie war, weil sie sie aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Die Frauen von damals seien nicht zu bemitleiden, sondern im Gegenteil sei es eine unbekümmerte Zeit gewesen. Sie sind gemeinsam in die Badi gegangen und haben die Zeit im Rahmen der finanziellen Mittel genossen. Gearbeitet hätten vor allem Arztfrauen, die ihren Mann unterstützt haben und sich ein Kindermädchen leisten konnten. Die Rollenverteilung war in allen Gesellschaftsschichten selbstverständlich und wurde in ihrem Umfeld nicht als Unterdrückung wahrgenommen. Es gab für sie keinen Grund, sich dagegen aufzulehnen. Die Annahme, dass Frauen nicht arbeiten durften, hält die Zeitzeugin allerdings für falsch. Keine der jungen Mütter in ihrem Umfeld sei davon abgehalten worden, eine Stelle anzunehmen. Im Gegenteil haben viele Frauen bereits vor der Reform gearbeitet, weil die Familien auf beide Einkommen angewiesen waren.

Die Zahlen des Bundesamtes für Statistik geben ihr Recht. Schon vor der Reform hat mehr als jede zweite Frau gearbeitet. Die Zahlen zeigen auch, dass viele Mütter ihre Stelle aufgegeben haben, aber ab den 1980er Jahren kehren immer mehr Frauen nach der Babypause in den Beruf zurück. Die Entwicklung beginnt vor der Reform und bestätigt, dass die Gesellschaft dem Gesetz voraus war. Die gesetzlich verlangte Zustimmung des Ehemannes kann für arbeitswillige Frauen keine grosse Hürde mehr gewesen sein.

Das Gesetz hinkt der Gesellschaft hinterher

Elisabeth Illien führt den Scarnuz auch heute noch, obwohl sie längst in Rente gehen könnte. «Ich habe immer gerne gearbeitet und wurde von meiner Familie nie daran gehindert», meint sie rückblickend. Dann fügt sie an, dass das Gesetz für diejenigen, die unterdrückt wurden, keine Veränderung brachte. «Meine Mutter wollte gerne arbeiten, aber mein Vater war strikt dagegen.» Es sei vor allem deren Generation gewesen, die das Gesetz eingeschränkt hat. Für sie kam die Reform zu spät, um auf den Arbeitsmarkt zurückzukehren, weil sie den Anschluss längst verpasst hatten. Zu ihrer eigenen Zeit hingegen habe es die Einwilligung des Mannes gar nicht mehr gebraucht, auch wenn das Gesetz dies formal vorschrieb. Die Reform, schliesst sie, hat keine Veränderung bewirkt, sondern das Gesetz an die gesellschaftliche Realität angepasst und dadurch die Politik in die Gegenwart befördert.

Kim Bauer ist im zweiten Semester im Master in Marketing Management. Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Werkstatt des Lehrprogramms Wirtschaftsjournalismus unter der Leitung von Stefanie Knoll, SRF, und ist Teil der Serie zum Thema «Geld oder Glück».

Bild: Adobe Stock / Ruben

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