Hintergrund - 28.01.2022 - 00:00 

Diplomatie, Realpolitik und die Ukraine-Krise

James W. Davis über den Russland-Ukraine-Konflikt, ukrainischen Nationalismus und politische Rezepte für Europas Umgang mit der russischen Bedrohung.
Quelle: HSG Newsroom

28. Januar 2022. Obwohl seine zentralen Grundsätze bereits von Thukydides anerkannt wurden, verdanken wir den Begriff 'Realpolitik' den Deutschen. Üblicherweise dem liberalen Publizisten August Ludwig von Rochau zugeschrieben, der Mitte des 19. Jahrhunderts seine Grundsätze der Realpolitik veröffent-lichte, bezeichnet Realpolitik ein besonderes Verständnis von den Realitäten des politischen Lebens und den damit verbundenen Erfordernissen einer erfolgreichen Außenpolitik. Es war kein Geringerer als Otto von Bismarck, der die Kunst dieser Art der Politik perfektionierte. In der Frage der deutschen Einheit war die Antwort des Bundeskanzlers auf die Geschichte der Paulskirche und den seiner Zeit liberalen Widerstand gegen erhöhten Militärausgaben eindeutig: «Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen –, sondern durch Eisen und Blut.» Und durch den geschickten Einsatz von Gewalt – sowohl um die Schwachen zu besiegen als auch um die Starken einzuschüchtern – konsolidierte er einen schwachen Bund dynastischer Gebiete zu einem deutschen Nationalstaat mit seiner Hauptstadt Berlin.

Die zentrale Rolle der Macht in der internationalen Politik

In der Berliner Republik hingegen findet man kaum Politiker, die bereit sind, sich die zentrale Rolle der Macht in der internationalen Politik einzugestehen, geschweige denn den Begriff Realpolitik über die Lippen kommen zu lassen. Ganz anders in Moskau, wo Wladimir Putins Beherrschung der deutschen Sprache mit seiner Fähigkeit einhergeht, die politische Agenda Europas durch den geschickten Einsatz von Gewalt und die Androhung weiterer Angriffe zu dominieren. Drei internationale Konferenzen binnen einer Woche sind nicht schlecht für eine quantité négligeable oder schwache Regionalmacht, wie Präsident Obama das nuklear bewaffnete Russland einst nannte.

Aber wie nützlich ist die Linse der klassischen Realpolitik, um die aktuelle Konfrontation um die Ukraine zu analysieren? Bietet sie uns eindeutige politische Rezepte für den Umgang mit der russischen Bedrohung? Selbstverständlich ist die Realpolitik des 19. Jahrhunderts nicht eins zu eins auf die politische Praxis des 21. Jahrhunderts zu übertragen. Jedoch würde die zeitgenössische Diskussion von einer nüchterneren Bewertung der machtpolitischen Eckpunkte des aktuellen Patts profitieren.

Die Prämisse der Realpolitik

Realpolitik geht von der Prämisse aus, dass Staaten versuchen, ihre relative Position im internationalen System zu verteidigen, und daher äusserst sensibel auf wahrgenommene Bedrohungen ihres Status und ihrer Sicherheit reagieren. Man muss also nicht die inzwischen diskreditierte Behauptung hegen, der Westen habe ein Versprechen gebrochen, die NATO niemals nach Osten auszudehnen, um anzuerkennen, dass Moskau die NATO-Erklärung von Bukarest von 2008, wonach Georgien und die Ukraine eine NATO-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt wurde, wahrscheinlich nicht stillschweigend akzeptieren würde. Auch wenn wir im Westen wissen, dass die NATO keine offensiven Absichten gegenüber Russland hegt, ist es keineswegs klar, dass Putin dies versteht. Und in dem Masse, in dem eine wirtschaftlich erfolgreiche und demokratisch regierte Ukraine eine ideologische Bedrohung der autoritären Herrschaft Putins darstellen würde, können Bemühungen der Europäischen Union, diesen aus Sicht ihrer liberalen Werte positiven Ausgang zu fördern, von Moskau als bedrohlich empfunden werden. Für Putin zählen die Absichten hinter unserer Politik weniger als ihre Folgen.

Bedeutet dies, dass der Westen vor Forderungen kapitulieren sollte, die durch den Lauf einer Waffe an uns gerichtet sind? Realpolitik rät hier zur Vorsicht. Obwohl wir nicht von Sorgen um unseren Ruf besessen sein sollten, besteht die Gefahr, dass ein Rückzug von bereits erklärten Verpflichtungen ohne ausreichende und glaubhafte Sicherheitsgarantien nicht nur den Angreifer zufriedenstellt, sondern ihn auch dazu verleitet, seine Forderungen zu erhöhen. Genauso gefährlich wäre es jedoch, unseren Ruf für Belange aufs Spiel zu setzen, für die wir entweder nicht kämpfen wollen oder kämpfen können. Man muss sich also die Frage stellen: Ist die Aussicht auf eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt? Und wenn ja, für wen?

Die Rolle der USA

Auf dem Berliner Kongress 1878 zur Balkanfrage meinte der Eiserne Kanzler, dass für ihn der Balkan «nicht die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert» sei. Man kann fast hören, wie die Mutter einer Soldatin im fernen amerikanischen Bundesstaat Utah dasselbe über die Ukraine sagt. Ähnlich wie 1938 Neville Chamberlain die Haltung der Engländer in der Sudetenfrage einschätzte, ist die aktuelle Krise für viele Amerikaner lediglich ein Streit in einem fernen Land, zwischen Menschen, von denen sie wenig wissen. In München zeigte Chamberlain kein Interesse an einer Verteidigung der territorialen Integrität der Tschechoslowakei. Und bisher hat Präsident Biden es vermieden zu sagen, dass die USA für die territoriale Integrität der bereits geteilten Ukraine kämpfen würden. Doch eine realistische Einschätzung der Lage lässt den Schluss zu, dass es bei der Verteidigung einer unabhängigen Ukraine derzeit keine Alternative zu den USA gibt. Angesichts der erodierten Fähigkeiten der europäischen Verbündeten würde die Situation ohne amerikanische Streitkräfte die einer Strassenkatze, die von Mäusen umgeben ist, ähneln. Die Herausforderung für die Katze ist nicht, zu überlegen, wie sie der Situation entkommen soll, sondern ihren ersten Gang vom Buffet zu wählen. Aber könnte sie danach das Mal verdauen?

Obwohl einige Beobachter die Ansicht vertreten, dass eine realpolitische Lösung der Ukraine-Krise in der Anerkennung von Russlands Anspruch auf eine Einflusssphäre über das sogenannte «nahe Ausland» läge, war ein solches Denken bereits zu Bismarcks Zeiten überholt. Denn die deutsche Einigung wurde im Grunde ebenso durch den verbreiteten Nationalismus wie durch preussische Macht ermöglicht. Als das dynastische Prinzip des 18. Jahrhunderts Napoleon und der Idee der nationalen – wenn nicht gerade populären – Souveränität Platz machen musste, konnten Territorien nicht mehr wie Figuren auf einem Schachbrett hin und her geschoben oder einfach von fremden Mächten besetzt werden.

Carl von Clausewitz und die Lehre des «kleinen Krieges»

Die neue Situation wurde bereits damals von einem preussischen Soldaten namens Carl von Clausewitz erkannt. An den Beispielen des spanischen Guerillakrieges und des von Andreas Hofer im Tirol geführten Aufstands gegen Napoleon, entwickelte er eine Lehre des «kleinen Krieges», was nicht weniger war als eine Strategie des bewaffneten Volkswiderstandes. Ungeachtet Putins Behauptung einer fortbestehenden Einheit unter den Völkern der historischen Rus, ist es Tatsache, dass sich heute eine Mehrheit der Ukrainer nicht eine russische, sondern eine ukrainische Identität zuschreiben. Somit stellen der ukrainische Nationalismus und die Aussicht, dass selbst eine anfänglich erfolgreiche Invasion zu anhaltendem und kostspieligem bewaffnetem Widerstand führen würde, die größte Abschreckung gegen einen russischen Angriff dar.

Vor diesem Hintergrund ist der Widerstand Berlins gegen Waffenlieferungen in die Ukraine noch weniger sinnvoll als das generelle Verbot von Lieferungen in Krisengebiete. Die offensichtliche Frage – «Wo sonst?» – ist nicht wirklich ketzerisch. Sollen aber Waffenlieferungen eine Rolle in jener Art von Abschreckung, welche von den Schweizern seit langem praktiziert wird, spielen, gleichzeitig aber Putin keine Munition für seine Argumente liefern, dass eigentlich Russland das bedrohte Land sei, müssen die Waffen besonderer Gattung sein. Sie sollten leicht, hochmobil und versteckbar sein, damit sie überall eingesetzt werden und nicht leicht in die Hände einer einfallenden russischen Streitmacht fallen können. Denn diese Art von Waffen ist am nützlichsten für die Art des bewaffneten Widerstands, der einer Besatzungsmacht laufende Kosten auferlegen kann. Mobile sichere Kommunikationsausrüstung wird benötigt, um einen effektiven Widerstand zu koordinieren. Ferner wird medizinisches Material für die Notfallversorgung unerlässlich.

Natürlich löst allein das Aufwerfen einer solchen Politik den Pawlowschen Reflex in Berlin aus. Das Mantra kennen wir zumindest seit dem 11. September 2001: «Konflikte können nur politisch gelöst werden!» Aber genau das ist der Punkt. Um Putin am Verhandlungstisch zu halten, muss die Aussicht auf einen schnellen militärischen Sieg ausgeschlossen sein. Eine erfolgreiche Ukraine Politik wird nicht durch das Trennen, sondern das Zusammenführen von Diplomatie und Gewalt ermöglicht.

James W. Davis ist amerikanischer Staatsburger und Ordinarius für internationale Politik an der Universität St. Gallen. Der hier publizierte Text erschien zuerst in einer leicht gekürzten Fassung in der NZZ.

Foto: Copyright Adobe Stock /  Grigory Kubatyan

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