Meinungen - 04.06.2014 - 00:00 

Die WM fernab vom Fussball

Das brasilianische Volk sorgt sich mehr um die politischen Auswirkungen der Fussballweltmeisterschaft, als um die sportlichen Erfolge, schreibt Daniel Médici. Médici ist Journalist der brasilianischen Tageszeitung Folha de S.Paulo und eröffnet unseren Themenschwerpunkt zur Fussball-WM.
Quelle: HSG Newsroom

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Weniger als einen Monat vor dem Eröffnungsspiel der Fussballweltmeisterschaft in Brasilien lässt sich etwas ziemlich Ungewöhnliches beobachten. Womöglich wird dieser Sportart hier von allen Orten auf der Welt der höchste und wichtigste Stellenwert eingeräumt – und meist ist das Thema Fussball, sehr zum Leidwesen einiger weniger, das einzige, über das hier alle vier Jahre zur WM-Zeit gesprochen wird. Doch dieses Jahr verhält es sich anders. Wenn man sich auf den Straßen São Paulos bewegt, stellt man fest, dass viele Leute das Thema Fussball mit großer Missbilligung betrachten – ob es sich dabei um Freundesgruppen in Bars, Taxifahrer oder Passanten auf der Straße handelt. Anstatt sich wie sonst über die bevorstehenden Spiele auszutauschen, diskutieren die Menschen über die politischen Auswirkungen dieses Events, kritisieren die enormen Kosten oder fragen sich besorgt, wie sich der unwahrscheinlich große Zustrom an Touristen auf die ohnehin schon chaotischen Zustände in den Grossstädten auswirken wird.

Dies ist sehr ungewöhnlich für ein Land, in dem dieser Sport normalerweise zur Staatssache erklärt wird, ganz besonders im Jahr der Weltmeisterschaft. Unmittelbar vor den Wettkämpfen in Deutschland im Jahr 2006 wurde noch stundenlang über die Vor- und Nachteile des «Square-Attack-Systems» (zwei Reihen aus je zwei Spielern), eingeführt vom damaligen Trainer Carlos Alberto Parreira, gestritten. Und in den Jahren 2002 und 1998 schlugen die öffentlichen Wellen der Entrüstung hoch, als Romário nicht für das Nationalteam nominiert war – eine Entscheidung, die damals sehr leidenschaftlich und kontrovers diskutiert wurde.

Während einer Weltmeisterschaft werden brasilianische Spieler betrachtet wie Soldaten auf einer Mission: Sie sollen den Stolz der Nation verteidigen, und das gesamte Land erwartet selbstverständlich einen Sieg.

Und ein Spiel der Nationalmannschaft ist in Brasilien im Grunde immer ein nationaler Feiertag. Schon Stunden vor dem Anpfiff verlassen alle – üblicherweise in den Nationalfarben gelb und grün gekleidet – aufgeregt ihren Arbeitsplatz, um sich mit Freunden oder Familienangehörigen in Bars oder zu Hause vor dem Fernseher zu versammeln – in Erwartung eines Sieges ihrer Mannschaft.

Sobald der Schiedsrichter das Spiel anpfeift und der Ball das erste Mal über den Rasen rollt, sind die Strassen von São Paulo so leergefegt, als hätte eine Bombe eingeschlagen – und das in einer Zehn-Millionen-Stadt, die weltweit wegen ihrer Verkehrsstaus berüchtigt ist. Interessanterweise verursachen die Pausen während eines Weltmeisterschaftsspiels den landesweiten Energielieferanten das größte Kopfzerbrechen – der Moment, wenn Millionen von Kühlschranktüren im ganzen Land gleichzeitig geöffnet werden, wodurch das aufgrund der zahlreichen TV-Geräte ohnehin schon stark beanspruchte Stromnetz noch mehr belastet wird und das Energiesystem die hierfür benötigte Anzahl an Gigawatt kaum noch zur Verfügung stellen kann.

Normalerweise wäre eine Fussballnation wie diese angesichts der Tatsache, eine Weltmeisterschaft auszurichten, ganz aus dem Häuschen. Aber etwas hat sich geändert.

Auch wenn Korruption in der brasilianischen Politik seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar Jahrhunderten, ein blühendes Geschäft ist, das bisher nur sehr wenig öffentliche Empörung hervorgerufen hat, wurden im Juni 2013 die ersten Spannungen spürbar, als scheinbar spontane Demonstrationen gegen die Erhöhung der Buspreise in São Paulo sich plötzlich zu Dutzenden von massiven Protestkundgebungen im ganzen Land ausweiteten, denen eine ganze Reihe verschiedener Ursachen zugrunde lag – von Korruption bis zum Verschwinden eines Mannes, den die Polizei in Rio festgenommen hatte.

Warum genau diese öffentlichen Unruhen ausgerechnet jetzt auftreten, ist schwer zu sagen. Eine Erklärung wäre, dass die Lebenshaltungskosten kontinuierlich gestiegen sind, während die generelle Wirtschaftslage im Land eher stagniert. Tatsache ist, dass die Fussballweltmeisterschaft bei vielen plötzlich im Visier der Kritik steht. Und warum das so ist, ist nicht sonderlich schwer zu erraten.

Da sind zunächst einmal die fast schon pharaonisch anmutenden Stadien im ganzen Land. Insgesamt zwölf sind es an der Zahl, wesentlich mehr als nötig, um ein solches Event auszurichten. Sie sind zu einem Symbol sinnloser Verschwendung geworden. Gastgeberstädte wie Manaus oder Brasília haben brandneue Spielstätten mit Sitzkapazitäten von 40.000 beziehungsweise 70.000 Plätzen errichtet, während kleinere lokale Vereine kaum mehr als 10.000 Menschen zu den regulären Spielen anlocken.

Darüber hinaus hat sich die FIFA mit ihren drakonischen Vorschriften, die sie für die WM erlassen hat – unter anderem Steuerbefreiungen für sich selbst sowie offizielle Sponsoren – in der Öffentlichkeit nicht gerade beliebt gemacht. Und zu guter Letzt steht Brasilien vier Monate vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, und die Opposition, der die Niederlage bereits so gut wie sicher war, hat die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, sich einen möglichen politischen Vorteil zu verschaffen, indem sie die öffentliche Unzufriedenheit über eines der ehrgeizigsten Projekte der amtierenden Regierung zusätzlich anheizt: das Ausrichten der Fussballweltmeisterschaft.

Denn in der Tat realisieren mehr und mehr Brasilianer, dass Fussball nicht mehr ganz so viel Spass macht, wenn es dabei plötzlich um so ernste Bereiche wie öffentliche Gelder, Infrastruktur und Stadtplanung oder Modernisierung und Gebäudesanierung geht. Das letzte Mal, als wir eine Weltmeisterschaft ausgerichtet haben, war im Jahr 1950, wo alles noch wesentlich kleiner und bescheidener war. Mittlerweile ist eine WM kein reines Sportereignis mehr, sie ist vor allem ein Medien- und Werbe-Event, wie entsprechende TV-Spots nicht müde werden uns zu erinnern. Jede einzelne Werbeschaltung hat etwas mit der WM zu tun, ob es nun darum geht, Turnschuhe zu verkaufen oder Handys, Flachbild-Fernseher oder Kühlschränke. Der Fussball selbst scheint zweitrangig geworden zu sein.

Eine Fussballweltmeisterschaft als reine Unterhaltungsveranstaltung anzusehen, ist ein Leichtes – wenn sie nicht gerade im eigenen Hinterhof stattfindet. Tatsächlich haben viele Brasilianer offensichtlich gerade erkannt, dass eine Party zu feiern zwar viel Spass macht, eine sehr grosse selbst auszurichten jedoch sehr viel Arbeit bedeutet. Ob sie sich ausgezahlt hat, wird sich zeigen, wenn der erste Ball übers Spielfeld rollt.

Foto: Peter Fenyvesi / photocase.com

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