Meinungen - 11.10.2022 - 00:00 

Die Eurozone ist heute ganz anders als noch vor ein paar Jahren

Das Konzept einer gemeinsamen europäischen Währung sollte einen Kontinent vereinen, der jahrhundertelang von Kriegen zerrissen worden war. Seit den 1990er Jahren hat sich das europäische Währungssystem grundlegend verändert. Von Dr. Stefan Legge.
Quelle: HSG Newsroom

11. Oktober 2022. Im Jahr 2019 zeigte eine Forschungsarbeit in der Zeitschrift Nature Human Behaviour empirisch, dass viele Ereignisse, die eines Tages als historisch angesehen werden, zum Zeitpunkt ihres Geschehens kaum Beachtung fanden. Es scheint, dass dies auch für das europäische Währungssystem gilt.

 

Als sich das Konzept einer gemeinsamen europäischen Währung in den 1990er Jahren durchsetzte, ging es vor allem darum, einen Kontinent zu vereinen, der jahrhundertelang von Kriegen zerrissen worden war. Der Euro war Teil eines langfristigen europäischen Projekts. Und anfangs hat er tatsächlich geeint: Die Spreads, das heisst Zinsunterschiede, zwischen Anleihen aus Italien oder anderen Mittelmeerländern und jenen aus Deutschland sanken auf null.

Ein Jahrzehnt der Harmonie

Nach ihrer Einführung im Jahr 1999 war es ein Jahrzehnt lang ruhig um die gemeinsame Währung. Dann änderten sich die jedoch Dinge dramatisch. Die globale Finanzkrise und die europäische Schuldenkrise machten die Schwachstelle der Währung deutlich: Jeder Mitgliedsstaat war faktisch in einer Fremdwährung verschuldet. Das ist anders als in anderen Teilen der Welt. Niemand würde erwarten, dass z. B. Japan oder die Vereinigten Staaten zahlungsunfähig werden, da sie jederzeit so viel Geld wie nötig drucken können. Es besteht die Gefahr von Inflation und Währungsabwertung, aber nicht das Risiko eines Zahlungsausfalls. 

In der Eurozone ist das ganz anders. Italien, Griechenland oder Spanien könnten tatsächlich zahlungsunfähig werden. Durch dieses Insolvenzrisiko stiegen die Renditen für Staatsanleihen. Die Lage kühlte sich erst ab, als der damalige EZB-Präsident Mario Draghi ankündigte, alles zu tun, um den Euro zu erhalten («whatever it takes»). Da das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) fortan faktisch unbegrenzt Anleihen kaufen konnte, bestand kein Ausfallrisiko mehr. Das so genannte Outright Monetary Transactions (OMT)-Programm musste nie in Anspruch genommen werden. Allein seine bloße Existenz beruhigte die Anleger. Der OMT-Rahmen war jedoch an strenge Bedingungen geknüpft, um die Regierungen der Euro-Mitglieder zu disziplinieren. 

Die Auswirkungen von COVID-19

Doch dann kam COVID-19 und das Euro-System änderte sich grundlegend. Zum ersten Mal in seiner Geschichte verzeichneten alle Mitgliedstaaten ein öffentliches Defizit von mehr als drei Prozent des BIP. Das Risiko eines Staatsbankrotts war wieder in den Nachrichten. Es wurde weiter angeheizt, als Christine Lagarde, die derzeitige Chefin der EZB, im März 2020 sagte: «Wir sind nicht hier, um die Spreads zu schließen.» Als Reaktion auf die steigenden Zinssätze für italienische Schulden änderte Lagarde ihre Position allerdings sehr schnell. Man könnte sogar sagen, dass die EZB ein «neues Mandat» zur Verringerung der Zinsdifferenzen angenommen hat. Dies wurde im Sommer 2022 mit der Einführung des Anti-Fragmentierungsinstruments namens Transmission Protection Instrument (TPI) offiziell. 

Ist dies nur mehr vom Gleichen oder tatsächlich anders als in der Vergangenheit? Zweifellos hat sich das europäische Währungssystem grundlegend verändert.

Erstens verzerrt die EZB jetzt die relativen Preise. Das neue TPI ermöglicht der EZB den Ankauf von Schuldtiteln, wenn «eine Verschlechterung der Finanzierungsbedingungen nicht durch länderspezifische Fundamentaldaten gerechtfertigt ist». Dies bedeutet, dass die Zentralbank selektiv Anleihen kauft, also anders als in der Vergangenheit, als das ESZB Anleihen proportional zu dem Gewicht kaufte, das jedes Euro-Mitglied in die gemeinsame Währung einbrachte. Die jüngsten Daten deuten darauf hin, dass die Zentralbank fällig werdende deutsche und französische Anleihen verkauft und die freigewordenen Mittel zum Kauf italienischer und spanischer Schuldtitel verwendet hat.

Zweitens wurde die strenge Konditionalität während der COVID-19-Krise fallen gelassen. Im Rahmen des Pandemic Emergency Purchase Program (PEPP) kaufte das ESZB Anleihen im Wert von rund 1,7 Billionen Euro, was 14 Prozent des BIP der Eurozone entspricht. Die gesamte öffentliche Kreditaufnahme während der Pandemie wurde mit der Druckerpresse finanziert - ohne große Auflagen. Und die Käufe im TPI sind nicht ex ante beschränkt. Dies kommt einem Blankoscheck für den Kauf von Staatsschulden gleich.

Eine neue Generation

Drittens emittiert die EU nun eigene Schulden im Rahmen des EU-Programms «Next Generation EU» in Höhe von 750 Milliarden Euro. Nach einer jahrzehntelangen Debatte sind die Eurobonds nun bei uns angekommen. Um die Zinsen niedrig zu halten, greifen die europäischen Institutionen auf die Glaubwürdigkeit Deutschlands zurück.

Die breite Öffentlichkeit hat diese grundlegenden Veränderungen kaum wahrgenommen, da andere Themen die Nachrichten beherrschten. Darüber hinaus herrscht ein Gefühl von TINA (there is no alternative). Die EZB, die einen Großteil ihrer Glaubwürdigkeit verloren hat, befindet sich in einer Zwickmühle: Würde sie ihre Anleihekäufe einstellen, bestünde die Gefahr einer weiteren europäischen Schuldenkrise. Wenn sie jedoch weiterhin Anleihen kauft, bleiben die öffentlichen Defizite und die Inflation auf einem hohen Niveau.

Der Dramatiker Arthur Miller brachte es einmal wie folgt auf den Punkt: «Man kann sagen, dass eine Ära zu Ende geht, wenn ihre grundlegenden Illusionen erschöpft sind». Die gemeinsame europäische Währung hat diesen Punkt erreicht.  Sie unterscheidet sich stark von dem, was sie vor 2020 war. Und obwohl nur wenige Medien darüber berichteten, haben die Finanzmärkte die grundlegende Veränderung erkannt. Die Währung hat begonnen, gegenüber dem US-Dollar oder dem Schweizer Franken stark an Wert zu verlieren.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Oktoberausgabe 2022 von The Banker. Seit 1926 ist das Magazin die weltweit führende Bank- und Finanzressource für die Finanzbranche.

Dr. Stefan Legge ist Dozent und Ökonom an der Universität St.Gallen.

Bild: Adobe Stock / Christian

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