Meinungen - 12.01.2015 - 00:00 

Der andere, alltägliche Schrecken

Prof. Dr. Christoph Frei über die Vorgeschichte der Terroranschläge in Paris, verfehlte Politik und die Perspektivenlosigkeit junger Banlieue-Bewohner.
Quelle: HSG Newsroom

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13. Januar 2015. Im Nachgang zu den blutigen Anschlägen in Paris hat die analytische Aufarbeitung begonnen, und es hagelt Forderungen. Eine davon findet sich häufig, sie verdient eine Replik. Es sei dem ausgreifenden Islamismus endlich eine alternative Ideologie entgegenzustellen, um junge Menschen vor Radikalisierung zu schützen. Das Postulat ist zwar nicht gänzlich falsch, verkürzt kausale Zusammenhänge aber in fast schon grobfahrlässiger Art und Weise. Wenn dem Terror mittelfristig der Boden entzogen werden soll, dann braucht es nicht in erster Linie neue Ideologien, sondern andere Zustände.

 

Ein Einwanderungsland ist Frankreich seit über hundertfünfzig Jahren. Über die längste Zeit hinweg waren die arbeitenden Immigranten nicht kulturell, wohl aber ökonomisch und sozial integriert. Grössere Probleme setzten ein, als im Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft die Arbeitslosigkeit kam. Mit einer Verschlechterung der Lebensbedingungen vorab in den unteren Einkommensschichten begann in den 1980er Jahren der Aufstieg jenes Front National, der Ängste subtil zu instrumentalisieren wusste, die Nation als Ort eines homogenen sozialen Körpers betonte und in der kulturellen Verschiedenheit der Einwanderer ein Hindernis sah.

Jugendliche zweiter Klasse

Diese Mischung kam an. Sie nährte einen Alltagsrassismus, den auch und vor allem die in Frankreich geborenen Kinder der Einwanderer zu spüren bekamen. Zwar mochten sie Franzosen sein, ihre ökonomische ebenso wie ihre soziale Integration blieb indessen weitgehend aus. Daran hat sich nichts mehr geändert – und nichts verkörpert das Scheitern der Politik in diesem Zusammenhang so eindrücklich wie der erbärmliche Zustand der Schulen in den Ghettos der Banlieue.

Wer Frankreich nur aus den Ferien kennt, wird sich schwer damit tun, das ganze Spektrum an Ausgrenzung für jene zu ermessen, die mit dem falschen Namen in die falschen Verhältnisse hineingeboren werden. «Kein Eintritt» heisst es überall, «nein» bei der Suche nach Wohnung oder Arbeit. Abweisung ist dabei eines, offene Erniedrigung ein anderes. Die Sicherheitskräfte machen es im Alltag vor. Sie wissen, dass selbst psychische und physische Übergriffe – «ces petites bavures» – in aller Regel ohne Folgen bleiben. Längst ist die Diskriminierung institutionalisiert, seit langem auch empirisch nachgewiesen: aggressivere Kontrollen, häufigere Untersuchungshaft, längere Haftstrafen.

Vor dem hier skizzierten Hintergrund greift die Forderung nach einer alternativen Ideologie für junge Menschen schlicht zu kurz. Junge «Banlieusards» vor dem Abgleiten in die Kleinkriminalität und Gewaltbereitschaft zu bewahren, setzt ein Minimum an Sicherheit voraus – und reale Möglichkeiten.

Alte, nicht eingelöste Versprechungen

Wo solche Perspektiven fehlen, nimmt die Marginalisierung mitunter schicksalhafte Züge an, als ob es kein Entrinnen gäbe. Wer erinnert sich heute an die anhaltenden, blutigen Unruhen von 2005 in den Vorstadtghettos von Paris? Unter dem Eindruck einer veritablen Explosion von Wut und Gewalt schrieb Eva Kimminich damals: «Sollte es extremistischen Islamisten gelingen, den in ihrer Existenz verleugneten und in ihrer Identität verletzten Jugendlichen Anerkennung und Ziele zu geben, dann kann der soziale Flächenbrand zum Erdbeben werden». Zehn Jahre sind seither ins Land gezogen, kaum eines der versprochenen Programme wurde implementiert. 2008 setzte die jüngste Wirtschaftskrise ein.

Terrorzellen wie die Kaida und der Islamische Staat werden auch in Zukunft weltweit rekrutieren. Wer den Werdegang der drei Attentäter von Paris zur Kenntnis nimmt und abgleicht mit der anhaltenden, geballten Trostlosigkeit in den Sozialbausiedlungen, wird sich nicht wundern, wenn dabei auch und gerade Frankreich auf lange Sicht hinaus Kanonenfutter liefern wird: junge Extremisten, die wenig zu verlieren haben.

Bild: kemai / www.photocase.com

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