Meinungen - 09.04.2014 - 00:00 

Demokratisches Defizit in Frankreich

Frankreichs Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben ihrer Regierung einen Denkzettel verpasst. Vincent Kaufmann über die aktuelle Verfassung des Landes und «Protestwählen» als Ventil für Unmut.
Quelle: HSG Newsroom

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9. April 2014. Das Ergebnis der Ende März 2014 durchgeführten Kommunalwahlen ist für den Präsidenten François Hollande, seine sozialistische Regierung und die damit verbundene parlamentarische Mehrheit verheerend. Die Linke verliert insgesamt 160 von den 509 Städten mit mehr als 10‘000 Bewohnern, die sie 2008 gewinnen konnte. Die Rechte gewinnt 139 Städte und der Front National von Marine Le Pen setzt sich in 11 Städten durch. An und für sich unbedeutend, wäre es nicht wieder ein Signal für die neue Mehrheitsfähigkeit des Front National.

Mit schlechten Wirtschaftswerten und einer Rekordarbeitslosigkeit (etwas über 10 Prozent) ist dieses Wahlergebnis alles andere als eine Überraschung. Die sozialistische Regierung ist eine der unpopulärsten, die es gemäss Meinungsumfragen in Frankreich je gegeben hat. Die Gründe liegen auf der Hand: Frankreichs Wettbewerbsfähigkeit kränkelt, das Land kommt wirtschaftlich nicht auf Kurs. Die Regierung setzte systematisch auf Steuererhöhungen, um das Staatsdefizit unter Kontrolle zu bringen, jedoch bis jetzt ohne Erfolg.

Denkzettel für die Regierung

Kein Wunder also, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger ihrer Regierung wieder einmal einen Denkzettel verpassen würden. Diese Botschaft ist scheinbar dieses Mal bei François Hollande schnell angekommen: schon am Montag, 31.März 2014, wurde der Premier Ministre Jean-Marc Ayrault durch Manuel Valls abgelöst, dem nachgesagt und manchmal von seinen eigenen Parteigenossen vorgeworfen wird, dass er den rechten, sozialdemokratischen Flügel der sozialistischen Partei vertritt, also ein Art französischer Tony Blair sei.

Ob Manuel Valls über genug Spielraum verfügen wird, um längst erwartete Grundreformen durchzusetzen (insbesondere eine niedrigere Besteuerung der Arbeit und die Abspeckung der umfangreichsten und teuersten staatlichen Verwaltung Europas), ist bei diesen Umständen eine offene Frage. Zumal auch Ikonen des linken Flügels der Partei wie der in der Schweiz besonders beliebte Arnaud Montebourg oder die Justizministerin Christiane Taubira zu der neuen Regierung gehören.

Überraschend ist dies aber auch nicht, weil es schon immer so war. 2008 bekamen Sarkozy und seine Mitte-Rechts-Partei UMP einen ähnlichen Denkzettel und verloren damals ihre Mehrheit auf Kommunalebene. Auch bei den europäischen Wahlen kann so etwas geschehen, und da ist ja der nächste Denkzettel für Hollande in ein paar Wochen fällig. Ob nun Gemeindebehörden oder europäische Abgeordnete gewählt werden, oder – wie im Jahr 2005 – über die europäische Verfassung abgestimmt wird: Wahltermine scheinen für Franzosen grundsätzlich gute Gelegenheiten, der Regierung endlich wieder einmal nein zu sagen.

Wahlen als Ventil
Das «Protestwahlverhalten» kann als Folge des stark zentralisierten politischen Systems gesehen werden, das den Bürgern nur wenig Möglichkeiten für direkte Partizipation bietet. Und auch die legislative Gewalt lässt bei heiklen Entscheidungen nur die Wahl zwischen unbedingter Unterstützung der Regierung oder Selbstauflösung, dies auch dank des berühmten Verfassungsartikels 49.3.

Und wenn es gerade ein paar Jahre lang keine Wahlen oder Referenden als Ventil für den Unmut gibt? Ja, dann bleiben Streiks aller Art. Oder unverkaufte Tomaten, die regelmässig zur Dekoration der Préfectures eingesetzt werden. Und wenn man weder über Tomaten noch über Mist verfügt, hat man immer noch die Option, ein paar Autos in Brand zu stecken: Die französischen Autos brennen scheinbar besonders gut. Hinter den Defiziten aller Art, die die französische Wirtschaft prägen, ist vor allem auch ein demokratisches Defizit festzustellen.

Bild: Photocase / hunfi

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