Meinungen - 26.07.2013 - 00:00 

Demokratie, made in Germany

Müsste man die deutsche Spielart von Demokratie in wenige Worten fassen, liesse sich etwa sagen: jung und pazifistisch, in Marmor gemeisselt - und ausgesprochen indirekt. Eine Einschätzung von Christoph Frei.
Quelle: HSG Newsroom

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14. August 2013. Mit Blick auf die formelhafte Charakterisierung politischer Systeme bietet sich der Rückgriff auf das Vokabular der Staats- und Politikwissenschaften in erster Linie an. Von einem «parlamentarischen System» wäre dann die Rede, vom «konstruktiven Misstrauensvotum», von der «Fünf-Prozent-Klausel» et cetera. Für sich genommen, bleiben solche Begriffe aber ohne Blut und Leben; erst die Rückbindung an historische Tatsachen und Zusammenhänge erfüllt sie mit Sinn.

Die deutsche Demokratie ist vergleichsweise jung. Lassen wir das missglückte Vorspiel der Weimarer Republik aussen vor, kommen wir für die alten Bundesländer auf knapp 65 Jahre, für die neuen auf deren 25. Zum Erbgut der Bundesrepublik gehört die polemische Abgrenzung von der moralischen, militärischen und materiellen Katastrophe der Hitlerzeit ebenso wie vom Kommunismus sowjetischen Zuschnitts.

Dieser zweifache anti-totalitäre Konsens ebenso wie das grüblerische und mitunter selbstquälerische Suchen nach Fehlentwicklungen in der eigenen Vergangenheit prägt deutsche politische Kultur bis heute. Dass sich der demokratische Neubeginn in Ostdeutschland zum Ende des Kalten Krieges unter völlig anderen Vorzeichen vollzog als vierzig Jahre früher in der Bundesrepublik, ist offensichtlich. Auf absehbare Zeit hinaus werden hier zwei «demokratische» Erinnerungen nebeneinander leben, wie überhaupt eine bemerkenswerte Vielfalt politischer Traditionen in den Ländern und Regionen Deutschlands viel zu häufig unbeachtet bleibt.

Ein Hegemon ohne den Willen zur Hegemonie
Krieg, Zerstörung, Holocaust: Die hässliche Vergangenheit des «Dritten Reiches» ist Teil der psychologischen Verfassungswirklichkeit in Deutschland geblieben. Aus dem «Nie wieder!» erklärt sich die auffallend pazifistische Einfärbung der jungen Demokratie. Jedem Deutschen, der noch einmal ein Gewehr anfasse, solle die Hand abfallen, forderte Franz Josef Strauss im Jahre 1946, und noch heute ziehen bei jedem geeigneten Anlass hohe Wellen pazifistischer Gesinnung über das Land.

Nicht zufällig ist der äussere Wiederaufstieg seit dem Zweiten Weltkrieg untrennbar verknüpft mit der fortschreitenden Eingliederung in ein integriertes europäisches Staatengefüge. Der mit Abstand grösste, bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste Mitgliedstaat der Europäischen Union kultiviert im Politischen eine Selbstbescheidung, die irritieren mag und deren Hintergründe allein die Geschichte erhellt.

Aus dem moralischen Impetus eines «Nie wieder!» erschliesst sich im Weiteren die werthafte Überhöhung, wenn nicht Verabsolutierung eines damals neuartigen politischen Systems. Durch die berühmte Ewigkeitsklausel in Artikel 79 des Grundgesetzes ist Demokratie jeder partiellen Verfassungsänderung explizit entzogen, ist sie buchstäblich festgeschrieben worden. Die institutionelle Umsetzung bescherte dem Land eine grosse, wenn auch bisweilen dysfunktionale Vielzahl von Sicherungen gegen autoritäre Entgleisungen.

Direkte Demokratie – zu gefährlich
Zu solchen Sicherungen gehört unter anderem die konsequent repräsentative Ausgestaltung von Demokratie. Nur vereinzelt war im Zuge der Verfassungsdiskussion von 1948 die Aufnahme direkt-demokratischer Beteiligungsrechte für die Bürger eingefordert worden. Stellvertretend für eine erdrückende Mehrheitsmeinung lehnte der liberale Abgeordnete Theodor Heuss einschlägige Postulate im Parlamentarischen Rat mit der vielzitierten Formel ab, in der grossräumigen Demokratie seien Volksrechte «eine Prämie für jeden Demagogen.» Wenig Vertrauen in das Volk also, keine Entscheidungsmöglichkeiten für das Volk; Demokratie wurde zu einer Sache der Parteien.

Zu den erwähnten Sicherungen gehört schliesslich eine Stellung für die Justiz, die im Ausland ihresgleichen sucht. So steht die deutsche Version von Demokratie buchstäblich im Schatten des Bundesverfassungsgerichts. Ihm gehört das letzte Wort, wo die politischen Akteure nicht selbst entscheiden wollen oder können. Und diese mächtige Instanz scheut nicht davor zurück, auf Fragen, die ein Fall gar nicht aufwirft, autoritativ – oder autoritär? – mit Verfassungsgrundsätzen zu antworten, die das Grundgesetz noch gar nicht enthält. Rechtsstaatlichkeit geht hier vor Demokratie.

Bild: Photocase / Deborre

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