Meinungen - 18.10.2012 - 00:00 

Das Schuldenfiasko von Washington

Die Stimmung auf dem Finanzmarkt hat sich merklich verändert. Die Märkte sind sich nicht mehr so sicher, dass Washington in den sauren Apfel beisst und sich auf eine Erhöhung der Schuldengrenze einigt.
Quelle: HSG Newsroom

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29. Juli 2011. Was in der Vergangenheit reine Formalität war, hat sich nun zu einer bedeutenden politischen Auseinandersetzung zwischen den politischen Parteien der USA – und noch wichtiger: innerhalb dieser Parteien – gemausert. Bestimmte Marktteilnehmer stellten fest, dass das TARP-Programm vom amerikanischen Kongress erst verabschiedet wurde, als die amerikanischen Finanzmärkte eine scharfe Korrektur erlitten; diese Analysten wundern sich jetzt, ob die Legislative wiederum nicht handeln wird, bevor sich das Land am finanziellen Abgrund befindet.

Letztlich geht es darum, dass das Vertrauen in eine harmlose, wenn auch in letzter Minute getroffene Entscheidung zur Erhöhung der Schuldengrenze untergraben worden ist. Infolge dessen sind die Kosten für die Versicherung der Staatsverschuldung gegen Zahlungsunfähigkeit scharf angestiegen, und der Kursverfall des US-Dollars der letzter Zeit legt nahe, dass verschiedene Anleger Massnahmen ergreifen, um ihr Engagement in auf Dollar lautenden Anlagen zu begrenzen. Sollte man ihrem Beispiel folgen, wenn man bedenkt, dass sich die Märkte jetzt neu kalibrieren?

In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu bedenken, dass es ungeachtet aller politischen Ränkespiele in Tat und Wahrheit darum geht, ob die US-Regierung ihren Verpflichtungen nachkommt oder nicht. Es bestehen keinerlei Anzeichen dafür, dass die amerikanische Regierung Mühe hat, auf den Finanzmärkten Anleihen zu verkaufen – und dies trotz des gewaltigen Budgetdefizits.

Es gibt keine Finanzanlagen, die so bereitwillig gehandelt werden wie die amerikanischen Staatsanleihen. Dazu kommt, dass die Länder mit grossem Aussenhandelsüberschuss regelmässig ausländische Vermögenswerte kaufen müssen. Zur Zeit wird geschätzt, dass allein China in jedem Quartal den Gegenwert von 200 Mia. USD erwerben muss. Solange es bei den Anlagezuteilungsentscheidungen dieser Handelsüberschussländer zu keinen grösseren Veränderungen kommt, werden sich für US-Staatsanleihen genügend Käufer finden.

Was die Situation indes völlig verändert, ist die gesetzliche Ermächtigung zur Erhöhung des Gesamtbetrags der ausstehenden amerikanischen Staatsverschuldung. Ohne diese Ermächtigung, welcher der Kongress zuzustimmen hat, kann das US-Finanzministerium ungeachtet der Nachfrage keine Anleihen mehr ausgeben. Zu einem bestimmten relativ kurzfristigen Zeitpunkt wird das Ausbleiben einer Erhöhung der „Schuldengrenze“ dazu führen, dass die USA nicht mehr in der Lage sind, ihre ausstehenden Schulden zurückzuzahlen oder gewissen anderen finanziellen Verpflichtungen wie z.B. Gehalts- und Rentenzahlungen nachzukommen. Beide Ergebnisse sind düster: Das erstere wird eine Aufwärtsbewegung der Zinssätze bewirken, da die Märkte infolge der Zahlungsunfähigkeit bei der Kreditgewährung an die US-Regierung einen Aufpreis verlangen werden, und das letztere wird die USA wahrscheinlich wieder in eine Rezession stürzen.

Je näher der 2. August 2011 – der Fristablauf für gesetzgeberisches Handeln – rückt, desto mehr werden sich die Akteure auf den Finanzmärkten mit diesen Faktoren befassen, und ein einschneidender Verlust von mehreren hundert Punkten an der Wall Street kann nicht ausgeschlossen werden. Dasselbe gilt für einen weiteren Wertverlust des US-Dollars sowie der bargeldhortenden Banken und Versicherungsgesellschaften. Diese einschneidenden finanziellen Anpassungen würden den Kongress zum Handeln bringen, doch besteht die Hauptfrage darin, um wie viel die Schuldengrenze erhöht wird.

Zwar wurden viele Worte darüber verloren, allfällige gesetzgeberische Massnahmen bezüglich der Schuldengrenze mit Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen zu verknüpfen, doch sind diese zwei Vorhaben kurzfristig von sekundärer Bedeutung. Schliesslich können derartige Versprechungen durch künftiges Legislieren wieder rückgängig gemacht werden, und es besteht keine Möglichkeit, einen zukünftigen amerikanischen Kongress an eine heute getroffene Abmachung zu binden.

Die amerikanischen Politiker sind sich dessen bewusst, und auf eine verquere Art und Weise ist es deswegen möglichweise leichter für sie, die Schuldengrenze auf dem Gesetzgebungsweg zu erhöhen: Die Demokraten werden die angekündigten Ausgabenkürzungen vom Tisch fegen, und die Republikaner werden bezweifeln, dass die angekündigten Steuererhöhungen je umgesetzt werden. Wenn die Politiker dies einmal erfasst haben, wird die versprochene finanzielle Sparübung ihre scharfen Umrisse verlieren – und die Ratingagenturen können dorthin gehen, wo der Pfeffer wächst!

Des Weiteren könnte der unsanfte Finanzschock der nächsten paar Tage die US-Politiker davon überzeugen, dass sie sich dieser Tortur nicht bald wieder unterziehen wollen. Also kann man eine Schuldengrenze erwarten, die – angesichts der gegenwärtigen Hochrechnungen für die amerikanische Staatsverschuldung – sicherstellen wird, dass dieser Fall vor den nächsten US-Präsidentschaftswahlen nicht mehr eintritt. So können für die Schuldengrenze zwei Billionen plus eine Erhöhung erwartet werden.

Längerfristig wird die US-Regierung ihrer prekären finanzwirtschaftlichen Situation ins Auge sehen müssen, doch herrscht diesbezüglich noch keine Eile. Ohne einen Auslöser wie z.B. das Anstossen an die Schuldengrenze werden die Finanzmärkte die Bedenken über der Zahlungsfähigkeit der USA ignorieren, solange sich für die amerikanischen Staatsanleihen reichlich Käufer finden.

Obwohl das Ausbleiben einer Erhöhung der amerikanischen Staatsverschuldung die Finanzmärkte am stärksten getroffen hat, werden genau diese Märkte wahrscheinlich die Lösung dieses aktuellen «Washingtoner Dramas» einleiten. Es ist im Auge zu behalten, was bezüglich der Schuldengrenze vereinbart wird; alles andere ist präsentationsbedingtes Zugemüse.

(Simon J. Evenett ist Professor für internationalen Handel und wirtschaftliche Entwicklung sowie Programmleiter des MBA-Programms an der Universität St.Gallen, Schweiz.)

Foto: photocase.com / Sonnabendkot

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