Hintergrund - 12.04.2023 - 11:00 

Das Pluriversum: Über den Einfluss der Philosophie auf die Politik

HSG-Philosoph Federico Luisetti spricht in einem Interview über seine Einladung zum G7-Gipfeltreffen in Japan, über das Thema des Referates, das er dort hält und darüber, was er sich vom Besuch des Anlasses erhofft.
Quelle: HSG Newsroom
HSG-Philosoph Federico Luisetti spricht in einem Interview über seine Einladung zum G7-Gipfeltreffen in Japan, über das Thema des Referates, das er dort hält und darüber, was er sich vom Besuch des Anlasses erhofft.

Es ist üblich, dass HSG-Professoren zu internationalen Konferenzen eingeladen werden. Ungewöhnlich ist, dass HSG-Assistenzprofessor und Philosoph Federico Luisetti die Einladung erhielt, einen Vortrag am Agile Governance Summit des Weltwirtschaftsforums zu halten, einem Side Event des G7 Digital and Tech Ministers' Meeting in Japan. Ziel des Gipfeltreffens ist, den G7-Staaten Empfehlungen zu Governance-Fragen zu geben. Doch was kann ein Philosophieprofessor den Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik weitergeben? Was hat Governance mit Philosophie zu tun? Diesen Fragen gingen wir mit Professor Federico Luisetti nach.

Professor Luisetti, Sie werden am Eröffnungsanlass des Agile Governance Summit des Weltwirtschaftsforums mit Führungskräften aus Wirtschaft und Politik teilnehmen. Was ist das Thema ihres Vortrages?

Ich werde mich zu einem meiner Forschungsthemen äussern, dem Pluriversum. Eine philosophische These, die besagt, dass die Welt nicht nur global oder lokal, sondern auch horizontal verbunden ist. Wenn wir an den Planeten denken, sollten wir uns ein komplexes Netzwerk des Lebens vorstellen, eine Vielzahl von miteinander verbundenen Existenzformen.

Die Organisatoren des Gipfels haben beschlossen, die gesamte Veranstaltung unter dem Titel «Cultivating Common Sense in the Pluriverse» auf diesen Gedanken hin auszurichten. Dies ist ein überraschender Schritt für eine Organisation wie das Weltwirtschaftsforum, da das Konzept des Pluriversums in der akademischen Welt und in der Öffentlichkeit noch relativ unbekannt ist. Der Begriff entstammt den 1990er Jahren in Lateinamerika, in der Zeit des zapatistischen Aufstands, als das dekoloniale Denken aufkam.

Seitdem hat der Begriff eine starke ökologische Konnotation erhalten, die auf die Notwendigkeit hinweist, «eine Welt zu gestalten, in der viele Welten Platz haben»  einen demokratischen Planeten, auf dem Mensch und Natur koexistieren und durch gegenseitige Vernetzung gedeihen können. Haupthindernis für die Erreichung dieses Zieles und die Verwirklichung des Pluriversums ist die Konzentration der Macht in den Händen einiger weniger und die Standardisierung des Wissens. Das Pluriversum fordert stattdessen eine radikale Pluralität und die Koexistenz verschiedener sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Systeme.

Wie können Regierungsvertreter das Konzept praktisch anwenden?

Der Gipfel wird versuchen, einige der bestehenden Strukturen unserer Staaten und Gesellschaften zu überdenken und sie dem Ideal der Pluralität näherzubringen. Wie können wir Eigentum und technologische Innovation neu bewerten? Meiner Meinung nach sind die drängendsten Herausforderungen, denen wir heute auf globaler Ebene gegenüberstehen, der Klimawandel und der drohende ökologische Kollaps. Das Pluriversum kann eine inspirierende Vision für soziale und ökologische Nachhaltigkeit bieten, indem es eine Zukunft zeichnet, in der auch die digitalen Systeme und die Verwaltung dezentralisiert und näher an die Gemeinschaften herangeführt werden. 

Es ist kein Zufall, dass die japanischen Organisatoren der Gipfelveranstaltung das Pluriversum als Thema gewählt haben: Japan ist ein Land, das sehr vielfältig und pluralistisch ist. Gleichzeitig hypermodern und traditionalistisch, verbunden mit der globalen Moderne und verwurzelt in seiner spezifischen asiatischen Lebenswelt.

Es klingt nicht so, als sei das Pluriversum ein wirklich praktischer oder greifbarer Ansatz zur Lösung globaler Herausforderungen. Welchen Einfluss aber könnte es haben?

Die Idee des Pluriversums bietet nicht eine einzige Lösung für die Probleme unseres Planeten, und sie ist skeptisch gegenüber einem «one-size-fits-all»-Ansatz. Sie kann jedoch dazu beitragen, vorgefasste Meinungen in Frage zu stellen, Prioritäten neu zu setzen und neue Perspektiven für Gesellschaft, Umwelt und Politik aufzuzeigen.

Was können die Teilnehmenden des Gipfels aus dem Verständnis der Idee des Pluriversums lernen?

Ich werde den Teilnehmenden ein Beispiel nennen, etwas Grundlegendes und Universelles, etwa die landwirtschaftliche Produktion. Dann fordere ich sie dazu auf, über die Auswirkungen des intensiven Anbaus nur einer Pflanzenart auf einem Feld nachzudenken. Die Umweltwissenschaften haben gezeigt, dass Monokulturen katastrophale Auswirkungen haben: Bodenverarmung, Biodiversitätsverlust, Krankheiten breiten sich aus, Schwermaschinen und Düngemittel werden übermässig eingesetzt und es kommt zu einem sprunghaften Anstieg der CO2-Emissionen.

Mein Argument ist, dass einige unserer sozialen, technologischen, wirtschaftlichen sowie politischen Systeme dieses Paradigma reproduzieren und wiederum negative Nebenwirkungen erzeugen. Datafizierung und Algorithmen können menschliches Verhalten über Kontinente hinweg standardisieren, die Gewinnung von Informationen und natürlichen Ressourcen ausweiten und Governance-Modelle homogenisieren.

Kann die Philosophie die Politik beeinflussen? Ist das überhaupt notwendig?

Das Pluriversum ist keine abstrakte philosophische Theorie, die von einigen «grossen Denkern» oder von einer bestimmten akademischen Tradition entwickelt wurde. Es ist eine wachsende, praxisbezogene sozio-ökologische Alternative, ein neuer gesunder Menschenverstand, der die Erde und ihre menschlichen und nicht-menschlichen Bewohnerinnen und Bewohner wertschätzt.

Ich habe mich immer vor dem direkten Einfluss einzelner Philosophen auf die staatliche Politik gehütet. In Italien war dies zuletzt bei Giovanni Gentile der Fall, dem «Philosophen des Faschismus». Gentiles Theorie des «ethischen Staates» trug massgeblich zur Legitimation der faschistischen Diktatur Benito Mussolinis in Italien bei. Letztlich wurden Gentiles Theorien zum Symbol des faschistischen autoritären Regimes, und Gentile wurde am 15. April 1944 von italienischen Partisanen ermordet.

Es wird oft gesagt, dass wir in unsicheren Zeiten leben. Genauer gesagt, dass wir in einer Zeit leben, in der Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit erwartet werden. Wie kann uns kritisches Denken in diesen Zeiten leiten und uns eine Grundlage geben?

Meine Herangehensweise an das Thema Nachhaltigkeit ist vom mittelalterlichen englischen Franziskanermönch und Philosophen Wilhelm von Ockham inspiriert. Sein berühmtes methodologisches Prinzip, das sogenannte «Ockhams Rasiermesser», empfiehlt Einfachheit bei der Suche nach Erklärungen. 

Genauso glaube ich, dass wir uns nicht von Komplexität und Ungewissheit überwältigen oder von der Fülle der Nachrichten und Theorien in unserer Welt lähmen lassen sollten. Die derzeitige Krise unseres Planeten wird durch zentralisierte und undemokratische soziotechnische Systeme verursacht, die auf der Förderung fossiler Brennstoffe und der Verbreitung dessen beruhen, was die indische Umweltaktivistin Vandana Shiva eine «Monokultur des Geistes» nennt. 

Das Pluriversum ist der Name für eine andere Realität, in der Pluralität real ist und von jedem und jeder von uns durch konkrete Handlungen gefördert werden kann.

Bild: Federico Luisetti

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