Meinungen - 06.04.2020 - 00:00 

Corona-Krise: Supply Chain Management der Schweiz auf dem Prüfstand (II)

In einer zweiteiligen Serie analysiert Prof. Erik Hofmann vom Institut für Supply Chain Management die Auswirkungen von COVID-19 auf die Beschaffung und Logistik in der Schweiz. Teil II: Spätfolgen und neue Trends.
Quelle: HSG Newsroom

 

6. April 2020. Aktuell sind alle Anstrengungen darauf gerichtet, die globalen Supply Chain am Laufen zu halten, auch in Anbetracht der Abhängigkeit von aussereuropäischen Produkten in der Lebensmittel- sowie in der Gesundheits- und Pharmaindustrie. Eine mögliche negative Folge der Krise könnte im Rückschritt bei Umweltinitiativen für die Supply Chains liegen. Dies allein schon aus dem Grund heraus, dass derzeit alle Konzentration auf der Erholung der Unternehmen liegt.

Was könnten Spätfolgen für die Supply Chains der aktuellen Corona-Krise sein?

Auf europäischer und schweizerischer Ebene wird es notwendig sein, Massnahmen zu unterstützen, welche die Nachhaltigkeit in den Supply Chains mit dem Ziel einer Zirkularen Wirtschaft («Cirular Economy») fördern. Hierbei wird wiederum das Re-Shoring in seinen verschiedenen Formen als Mittel zur Verkürzung der Supply Chains und zur Reduzierung des Versorgungsrisikos durch Multi-Sourcing eine Schlüsselrolle spielen. Letztendlich gilt es für zukünftige Notfälle vorzuplanen. Hierzu zählen vor allem ein konkreter Plan für das «Supply Chain Business Continuitiy Management», welches auch etwaige Fachpersonen des Gesundheitswesens und andere Ersthelfer einbezieht.

Welche Supply Chain-Konsequenzen werden sich abzeichnen?

Die meisten grossen, internationalen Unternehmen wissen, wo sich ihre Produkte befinden, und glauben in der Regel, dass sie keine Überbestände anlegen müssen. Für einen Grossteil der kleineren und mittelständischen Unternehmen trifft dies jedoch nicht zu. Das ist bittere Wahrheit für viele Schweizerische KMUs.
 

Nach dem Abklingen der Covid-19-Krise werden wir wohl zwei unterschiedliche Kategorien von Unternehmen sehen. Einerseits wird es diejenigen Akteure geben, die nichts weiteres unternehmen, in der Hoffnung, dass sich ein solches Ereignis nicht so schnell wieder ereignet. Diese Unternehmen werden ein hohes Risiko eingehen. Andererseits wird es Vorreiter geben, welche die Lehren aus dieser Krise ziehen und massiv in die Kartierung ihrer Wertschöpfungsnetzwerke investieren, damit sie nicht blind operieren müssen, wenn die nächste Krise eintritt. Es ist durchaus davon auszugehen, dass genau solche Unternehmen auf lange Sicht die Gewinner sein werden. Denn, die nächste Pandemie wird kommen – es ist nur eine Frage der Zeit (und Intensität).
 

Strassen- und intermodale Transporte sind Schlüsselelemente der europäischen Supply Chains. Obwohl es zu Beginn der Krise einen Nachfrageschub gab, ist aktuell [Ende März 2020] mit einem deutlichen Rückgang der Aktivität, um bis 30 Prozent gegenüber dem Vorjahresniveau zu rechnen, was auf den Nachfragerückgang und die Schwierigkeiten im internationalen Transportketten zurückzuführen ist. Ein erschwerender Grund ist auch die Zunahme von Kontrollen, welche zu kilometerlangen Staus an den nationalen Grenzen führen.

Kommt da noch ein grosses «Ding» auf schweizerische Supply Chains zu?

Ja, es ist leider zu befürchten. Denn Angebot und Nachfrage scheinen derzeit nicht im Einklang zu einander zu stehen. Grundsätzlich sind diese beiden Grössen direkt voneinander abhängig und entscheiden nicht nur massgeblich über den wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg eines Unternehmens, sondern bilden auch die Grundlage für sämtliche strategischen Entscheidungen. Doch aktuell muss man bei einer Beurteilung der Nachfrage unsichere Daten aus unterschiedlichen Bereichen zurate ziehen, um eine halbwegs zutreffende Prognose zur Marktsituation stellen zu können.

 

 

 

 

 

Auf die Unternehmen kommt aufgrund aufgeschaukelter Unsicherheiten ein riesiger Bullwhip-Effekt zu.

 

 

 

Seriöse Prognosen sind derzeit nicht möglich. Auf die Unternehmen kommt vielmehr aufgrund aufgeschaukelter Unsicherheiten ein riesiger Bullwhip-Effekt zu. Dieser Peitschenschlageffekt ist mit einem massiven Schluckauf in den Lieferketten vergleichbar, bei dem es aufgrund von unabgestimmten Supply Chain Planungen zahlreiche Bestellungen aufaddieren. In der Konsequenz kommt es an einigen Stellen zu Fehlbeständen (Stock-outs) und an anderen Stellen aufgrund von aufgelaufenen und kumulierten Bestellungen zu massiven Überbeständen.
 

Es wird einige Wochen dauern, bis sich die Supply Chains wieder beruhigen und diese unausgewogenen Ausschläge zurückgehen. Am Ende der Krise in der Erholungsphase werden wir deshalb genau solche Überbestände sehen – vom Klopapier über nicht benötigte Schutzausrüstung bis hin zu nicht mehr benötigten Medikamente. Auch das ist leider heute schon absehbar.

Welche Kosten kommen auf uns zu?

Die nun anzustossenden Aktivitäten in Beschaffung und Logistik sind nicht für umsonst zu bekommen. Unternehmen wie auch der Staat müssen investieren. Denn: die Aufrechterhaltung und Sicherung der Versorgung haben ihren Preis. Hier muss es zu einem Umdenken kommen – die Sicherung der Versorgung der Unternehmen und letztlich unseres gesellschaftlichen Systems – hat zu einem «fairen» Preis zu erfolgen. Die Ausbeutung schwächerer Lieferanten im so zu bezeichnenden «Power Plays» sind abzulegen.
 

Denn die in den Supply Chains zu erbringenden Leistungen sind so zu vergüten, dass die entstehenden Kosten gedeckt werden können. Die Versorgung als solche muss wirtschaftlich und am Ende des Tages «verursachergerecht» sein. Wenn durch staatliche Entscheidungen etwaige Mehrkosten entstehen, ist deutlich zu machen, wer diese zusätzlichen Aufwände trägt. Schnelles Handeln ist das Gebot der Stunde, Jedoch sollte dieses Handeln nicht kopflos und intransparent erfolgen.

 

 

 

 

 

Die Globalisierung wird auch nach der Krise nicht zurückgedreht.

 

 

 

Wird es zu einer Umkehr der globalen Wertschöpfung kommen?

Nein, die Globalisierung wird als solches auch nach der Krise nicht zurückgedreht. Es ist nicht zu erwarten, dass es zu einer weitgehenden Entflechtung und umfassenden Rückholaktion von Wertschöpfungsaktivitäten kommt. Dennoch sind punktuelle Re-Designs von Wertschöpfungsnetzwerken zu erwarten, die auch mit der Verkürzung von Supply Chains einhergehen.
 

Ein solches Re-Shoring haben wir allerdings bereits vor der Corona-Krise gesehen. Hier wird auch die Politik sowie das Bundesamt für Wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) ein Wörtchen mitreden und – gemeinsam mit der Industrie – festlegen, welche Produktionskapazitäten für welche Produkte in der Schweiz vorzuhalten sind.
 

Sehr wahrscheinlich wird sich das auf Pharmazeutika, Medizintechnik und Schutzausrüstungen beziehen. Gerade für solche kritische Waren im Gesundheitssystem wird man die Abhängigkeit aus dem Ausland reduzieren. Die Frage wird sein, was und wie viel kann und will sich die Schweiz leisten?

Was wird mit der Digitalisierung und der Industrie 4.0 in den Supply Chains?

Insgesamt wird sich der Megatrend der Digitalisierung und der Industrie 4.0 durch die Krise möglichweise zunächst etwas abschwächen. Es könnte kurz- und mittelfristig zu einer Delle kommen. Denn viele Start-ups im Bereich «Supply Chain» werden mit dem Überleben zu kämpfen haben, insbesondere dann, wenn die Finanzierung für diese Jungunternehmen ausläuft. In den kommenden Wochen und Monaten wird es kaum Unternehmen geben, welche neue Ideen mit diesen Innovationstreibern umsetzen können. Insbesondere im Falle einer Rezession werden die meisten Marktteilnehmer mit dem eigenen Überlebenskampf zu tun haben.

 

 

 

 

 

Langfristig wird auch die aktuelle COVID-19-Krise zu einem höheren Digitalisierungslevel führen.

 

 

 

Allerdings werden auch einige Sieger aus der aktuellen Krise emporsteigen. Video-Konferenzen und alle Anwendungen rund um das Home-Office stehen bereit jetzt hoch im Kurs. Das wird auch nach der Krise so bleiben. Gut vorstellbar ist auch, dass etwaige Bedenken in Bezug auf Privacy und Datenschutz beispielsweise im Zusammenhang mit Blockchain-basierten Track- und Trace-Lösungen künftig eine geringere Rolle spielen werden. Langfristig wird auch die aktuelle COVID-19-Krise zu einem höheren Digitalisierungslevel führen.

Wie sieht der Supply Chain-Blick in die Zukunft aus?

Der Blick muss bereits heute [in der Krise] über die Zeit nach der Krise hinausgehen. Wichtig ist es, den Ausstieg aus den Einschränkungen nicht zu verpassen. Gerade im Wiedererwachen der Wirtschaft und dem Wiederanlauf der Supply Chains steckt eine nicht zu vernachlässigende Herausforderung. Denn gerade im Wiederaufschwung müssen die Unternehmen wieder in Vorleistung für benötigte Rohstoffe und Teile treten, bevor die eigenen Produkte verkauft werden und Umsatz genieren.
 

Die Wirtschaftskrise 2008/09 hat gezeigt, dass gerade in dieser Phase die grösste Anzahl an Unternehmen in Liquiditätsengpässe geraten sind und Insolvenz beantragen mussten. Auch hier gilt eine Solidarität finanzstarker Unternehmen. Dem Instrument des «Instant Payments» oder der «Vorauskasse» kommt eine dabei eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung zu. Weiterhin könnten sogenannte Supply Chain Finanzierungslösungen (z.B. Reverse Factoring) einen wertvollen Beitrag zur Schliessung der Liquiditätslücke leisten.

Prof. Dr. Erik Hofmann ist Direktor des Instituts für Supply Chain Management (ISCM-HSG).
 

Bild: Adobe Stock / thomaslerchphoto

 

north