Meinungen - 02.02.2016 - 00:00 

Chinas New Economy (Teil 3/3)

Im dritten und letzten Teil seiner Reihe über China und die Weltwirtschaft beschäftigt sich Tomas Casas mit der Fluktuation der chinesischen Wirtschaft und sucht nach Belegen für nachhaltigen Erfolg.
Quelle: HSG Newsroom

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10. Februar 2016.

Teil III: Finanzquellen für Chinas New Economy

Wie das Beispiel Korea zeigt, ist wirtschaftliche Entwicklung von einem ständigen Auf und Ab geprägt. Die «Abs» können dem nachhaltigen Erfolg des neuen Modells nichts anhaben, wenn es gelingt, richtig mit ihnen umzugehen. Wie ernst sind die finanziellen Schwierigkeiten von China dann?

Martin Wolf zeigte kürzlich auf, dass die Gesamtverschuldung Chinas, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), unter 300 Prozent liegt, ähnlich wie in den USA und Deutschland. Mit diesem Wert schneidet China sogar besser ab als Japan (über 500 Prozent) und Grossbritannien (ca. 450 Prozent). Darüber hinaus ist Chinas Finanzvermögen im Verhältnis zum BIP mit 4,4 Punkten ähnlich dem Amerikas.

Interessant ist aber, wo die Übereinstimmungen mit den USA aufhören: Die chinesischen Bankenaktiva sind dreimal so hoch wie der Gesamtmarktwert, die amerikanischen nur 0,5-mal. Das indirekte Finanzsystem Chinas mag in Sachen Kapitalallokation weniger ausgeklügelt sein, dafür ist es aber stabiler und leichter zu steuern. Ausserdem übertragen sich Instabilitäten in China nicht auf andere Bereiche, weil das System viel weniger Übertragungskanäle für Finanzrisiken hat. Die meisten ausländischen Investitionen sind direkter Natur, Investitionen in Sachanlagen (FDI), keine Portfolioinvestitionen (FPI) wie Wertpapiere, festverzinsliche Verbindlichkeiten oder strukturierte Finanzprodukte. Ausländische Investoren halten keine chinesischen Forderungspapiere oder Derivate, wie sie US-amerikanische Mortgage-Backed Securities oder griechische oder mexikanische Wertpapiere halten. Japan kommt bei seinem astronomischen Schuldenniveau mit einem blauen Auge davon, weil die Handelspapiere im Inland gehalten werden, was verhindert, dass die schwindelerregenden Verschuldungszahlen zu einem globalen Risiko werden. China wird wohl kaum die Hauptursache für einen globalen Minsky-Effekt nach Lehmann-Vorbild werden.

Wenn sich der Staub gelegt hat bleiben reale Vermögenswerte
Auch wenn die notleidenden chinesischen Kredite das globale Finanzsystem nicht ins Wanken bringen, können sie dennoch im Inland für Chaos sorgen. Hier sind Minskys Fragen zur Beurteilung einer Schuldenblase nützlich. «Was wird finanziert?» und «Welche ist die grösste externe Finanzierungsquelle?» Wir haben gesehen, dass Chinas Schuldenstand die Produktionskapazitäten, die Infrastrukturen und den Immobilienmarkt stützt, manches wird also kaum zu korrigieren sein. Auf der anderen Seite sind Spareinlagen die wichtigste Finanzierungsquelle, nicht Collateral Debt Obligations (CDOs) oder synthetische Derivate. Das gilt sogar für die umfangreiche Schattenwirtschaft. So wird die Hebelwirkung aufrechterhalten, und wenn sich der Staub gelegt hat, bleiben noch immer reale Vermögenswerte und die Rolle Chinas als «Weltfabrik».

Von entscheidender Bedeutung ist, dass China die Wahl hat, sich gegen eine Subventionierung von Finanzunternehmen zu entscheiden, was bis hin zu einer Nullverzinsung und Nullrunden in der Zinssteuerung führen kann. Manche Ökonomen wünschen sich insgeheim, dass noch einige Jahre geringen oder gar negativen Wachstums vor China liegen mögen, wenn dadurch Risiken neu bepreist, der kreative Abbau gefördert, Reformen angestossen und die Weitergabe von Vermögenswerten der Old Economy in die Hand neuer Akteure vorangetrieben wird. Die Börsenprobleme in China sind das Ergebnis der Konflikte der alten Wirtschaftsordnung. Rund 55 Prozent der CSI 300-Marktkapitalisierung entfallen auf Staatsunternehmen. Hat China neben den informellen Institutionen überhaupt ein anderes Finanzsystem in petto, das die New Economy stützen könnte?

Teilweise, denn das Land macht weiterhin genau das, was es seit dreissig Jahren gut macht: Experimente.

Eine Spekulationsblase wie der Dot-com-Boom
Chinas New Third Board (National Equities Exchange and Quotations oder NEEQ), bestehend überwiegend aus Start-ups, wuchs von 25 Titeln im Jahr 2011 auf 5.129 Firmen im Jahr 2015. Nach Informationen der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua ist seine Marktkapitalisierung mit 374 Milliarden USD heute viermal so hoch wie 2014. Der Index hat sich in den vergangenen zwei Jahren mehr als verdreifacht. Das ist sicherlich eine Spekulationsblase wie der Dot-com-Boom. Eine, die bankrotte Firmen und eine Reihe von neuen Unternehmen hinterlassen wird, die das Land voran und hoffentlich über die 17.000 USD-Grenze bringen werden.

Jeder ausländische Geschäftstreibende, der sich eingehender mit China beschäftigt, sieht mehr als nur erste Vorboten des Umbruchs. Soziale Netzwerke und Bezahlsysteme wie WeChat oder Alipay sind funktional weitaus vielfältiger als ihre westlichen Pendants. Shanzhai-Markt-Tüftler etablieren sich als «Unicorns», und Drohnenhersteller wie DJI oder Xiaomi sind wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. Neue Technologien werden schneller als irgendwo sonst auf der Welt angenommen, 12 Prozent des chinesischen Handels entfallen bereits auf den Onlinehandel. Zum Vergleich: In den USA und Europa sind es nur rund 8 Prozent. Die Schlagzeile auf wired.com nach dem Sieg von Alicloud beim GraySort-Wettbewerb war bezeichnend: «Chinas Alibaba schlägt die USA im globalen Kampf der Maschinen.»

Auslagerung der Forschung und Entwicklung in die Schweiz
Das Land investiert bereits 2 Prozent seines BIP in Forschung und Entwicklung. Ob Big Data, DNA-Sequenzierung oder erneuerbare Energien – das Zusammentreffen des chinesischen Wissenschaftsnachwuchses mit einer neuen, geschäftsorientierten und lateralen Denkweise ist angesichts der bevorstehenden Vierten Industriellen Revolution nicht zu unterschätzen. Und wo Chinas Ressourcen für die Entwicklung von Innovationen noch nicht genügend entwickelt sind, wird es Abkürzungen und andere Wege entwickeln, um diese zu füllen. Das Angebot von Sinochem für Syngenta für 42 Milliarden US Dollar ist ein gutes Beispiel für eine solche Vorgehensweise da hier die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der Chinesen quasi in die Schweiz ausgelagert werden.

Eines der experimentierfreudigsten Länder überhaupt
China ist eines der experimentierfreudigsten Länder überhaupt, ein Land der Tüftler. Sogar die People’s Bank of China liebäugelt mit der Einführung einer digitalen nationalen Währung. Die Finanzressourcen bewegen sich in Richtung New Economy, und im Zuge dieser Verlagerung werden neue Geschäftsmodelle entwickelt, viel energischer als andernorts. Von besonderem Interesse sind die Modelle im Bereich der Finanztechnologie, die eines Tages vielleicht sogar die Wall Street herausfordern werden. Ende 2015 wurden in China bereits mehr als 60 Milliarden US Dollar auf P2P und 2'612 aktiven Kreditplattformen gehandelt (nichtsdestotrotz der Risiken die mit disruptiven Geschäftsmodellen verbunden sind; der Kollaps von eZubao letzten Monat kostete 900'000 Investoren ca. 7.6 Milliarden US Dollar). 

Geldmarktfonds werden online von Tencent, Alibaba usw. vertrieben. Yu’ebao verwaltet Finanzmittel im Wert von über 100 Milliarden USD – das muss PayPal erst einmal schaffen! Technologie und Dienstleistungen gehen Hand in Hand und sorgen für gute Nachrichten: Die Financial Times verwies auf eine Analyse des Goldman Sachs Asset Managements, aus der hervorgeht, dass der Dienstleistungssektor im Laufe des vergangenen Jahrzehnts, gemessen am BIP, von 40 Prozent auf 50 Prozent gewachsen ist.

Die alten Koalitionen brauchen einen Anstoss

Kurz zusammengefasst ist die Zukunftsaufgabe Chinas, sich als New Economy neu zu erfinden. Die letztendliche Überwindung der Einkommensfalle erfordert eine starke politische Führung. Um es in Mancur Olsons Worten auszudrücken: Die alten, dominanten Koalitionen brauchen einen Anstoss. Die alten Grössen des Energie-, Telekommunikations- und Bankensektors müssen produktiveren Akteuren weichen. Das aktuell geringere Wachstum und die Probleme der Old Economy werden sicher nicht direkt eine globale Finanzkrise auslösen. Doch wenn die politische Führung es schafft, die wirtschaftlichen Eliten neu aufzustellen, wird China die Falle des mittleren Einkommens überwinden. Dieser Schritt nach vorn würde das globale Wachstum über mehrere Jahrzehnte hinweg ankurbeln.

Welche Kraft könnte diese Veränderung noch aufhalten? Sobald die Volksrepublik den Wandel hin zu einer konsumbasierten, dienstleistungsorientierten und innovativen New Economy geschafft und hochkomplexe Produktionscluster à la Deutschland oder Korea gebildet hat, wird eine Krise in der Eurozone oder an der Wall Street die globale Wirtschaft nicht mehr so stark in Mitleidenschaft ziehen. Schon heute, 2016, ist Pekings grösste Sorge nicht China, sondern eben diese Faktoren, die ausserhalb des eigenen Einflussbereiches liegen. Die mangelnde Führung im Westen steht im Gegensatz zur Zielstrebigkeit Chinas.

Ein Minsky-Moment, gänzlich selbstgemacht vom Westen

Europa und die USA haben für billiges Geld auf schmerzhafte Reformen verzichtet, eine untragbare allgemeine Subventionierung, und China spürt, dass der Tag der Abrechnung naht. Das ist ein Minsky-Moment, gänzlich selbstgemacht vom Westen, vor dem Hintergrund des nach 2008 geschaffenen, künstlichen Finanzsystems, das Nassim Taleb mit seiner Theorie von den «Schwarzen Schwänen» als eine «Sowjet-Harvard-Illusion» bezeichnen würde. Und Probleme, die durch die politische Feigheit voll entwickelter Wirtschaften heraufbeschworen wurden, an den Herausforderungen einer Nation bei der Überwindung der Einkommensfalle festzumachen, scheint nicht ganz angebracht.

Bild: zanthia / photocase.de

 

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