Meinungen - 02.02.2016 - 00:00 

Chinas New Economy (Teil 2/3)

In Teil zwei dieser dreiteiligen Reihe diskutiert Tomas Casas die Probleme, vor denen China angesichts seiner wachsenden gesellschaftlichen Mittelschicht steht.
Quelle: HSG Newsroom

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4. Februar 2016.

Teil II: Die Falle des mittleren Einkommens überwinden

Neben dem Kapazitätsüberhang und der Ineffizienz der «alten» Wirtschaft steckt China in einem klassischen Wettbewerbsdilemma. Die Falle des mittleren Einkommens schnappt nach einer Wachstumsphase zu, in der die Gehaltserhöhungen die Produktivitätszuwächse übersteigen. Mittlerweile haben wir sogar einen Punkt erreicht, an dem Portugal mehr erschwingliche Fabrikarbeiter zu bieten hat als China. Ob China den Lewis-Wendepunkt bereits erreicht hat, darüber lässt sich streiten. Klar ist jedoch, dass das Reich der Mitte sich nie zum Ziel gesetzt hat, für alle Zeiten der günstigste Hersteller der Welt zu bleiben. Allerdings ist es auch noch kein Innovationsführer, die Messlatte für hochentwickelte Wirtschaftssysteme. Im Niemandsland zwischen Low-Cost-Produktion und höherer Wertschöpfung gefangen zu sein, kann langfristig ein Problem darstellen.

Brasilien, so sagt man oft scherzhaft, galt in den 60er-Jahren auch einmal als Land der Zukunft, und so sollte es immer bleiben. Neben Stadtstaaten wie Singapur haben nur Länder wie Korea und Japan seit dem zweiten Weltkrieg den Sprung aus der Falle des mittleren Einkommens geschafft und die ca. 17.000 US-Dollar Pro-Kopf-Einkommen überschritten, die man für diese Schwelle heute ansetzt.

Auf der Suche nach einem neuen Wirtschaftsmodell
Chinas Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf beträgt rund 8.000 USD nominal und 13.000 USD in Kaufkraftparitäten, der Moment der Wahrheit rückt also näher. Das Land muss zu einem neuen Wirtschaftsmodell finden oder droht, in der Einkommensfalle hängen zu bleiben. Ob das gelingt, ist allerdings noch völlig unklar, selbst der chinesische Finanzminister Lou Jiwei schätzte die Chancen in seiner berühmten Ansprache auf 50:50. Die Reduktion des Kapazitätsüberhangs und monopolistischer Strukturen mit dem Ziel, die Effizienz der alten Wirtschaft zu steigern, ist die Grundvoraussetzung für eine neue, innovations- und dienstleistungsorientierte Wirtschaft.

Werden diese Reformen dem exzessiven Spar- und Investitionsverhalten bzw. der Unterkonsumption entgegenwirken, Problemen, die viele ausländische Experten für besorgniserregend oder gar unlösbar halten?

Unterkonsumtion ist Joker für Wachstum
Die Konsumquote Chinas, ausgedrückt als Anteil am BIP, ist gerade einmal halb so hoch wie die amerikanische. Ökonomen sehen das Problem weniger in der Unterkonsumption als in den zunehmenden Investitionen in mehr Produktivität. Die Liberalisierung und Reform staatseigener Unternehmen (SOEs) wird beide Probleme verschärfen, denn SOEs sind wahre Kostensparer. Sie schütten keine Dividenden an ihren Anteilseigner, den Staat, aus, zahlen aber auch wenig für ihre Vermögensgüter (Frequenzzuweisung, Abbaurechte). Darüber hinaus gibt es für preisregulierte Firmen, wie der Averch-Johnson-Effekt postuliert, vollkommen übersteigerte Anreize zur Überinvestition. Auf Ebene der Haushalte könnten die hohen Sparquoten schnell fallen. Die jungen Chinesen leben auf grossem Fuss, noch mehr als ihre verschwenderischen Eltern. Unterkonsumption ist für China also ein regelrecht erfreuliches Problem, ein Joker für zukünftiges Wachstum, den man leicht ausspielen kann.

Das Kernproblem einer zunehmend produktiveren New Economy ist nicht der Konsum, sondern eher die Ungleichverteilung. Ihr Einfluss auf das politische System über Populismus oder gar eine Revolution sind die Ursache für die Einkommensfalle.

In den 70er-Jahren kristallisierte sich eine Nation heraus, deren Industrialisierungs- und Wachstumsraten auf eine Überwindung dieser Falle hindeuteten – nicht Korea, sondern der Iran. Soziale Unruhen und schliesslich die Revolution beendeten das, was ein Wirtschaftswunder wie aus dem Lehrbuch hätte werden sollen. Länder wie Brasilien, Venezuela und einige südeuropäische Länder gingen nicht auf Revolutionskurs. Dennoch wurden mehr oder weniger populistische Pfade beschritten. All diese Pfade sind gekennzeichnet durch sich abzeichnende Konflikte, deren Bewältigung alle teuer zu stehen kommen kann. So erhalten z. B. Arbeiter und Regierungsangestellte Vergünstigungen weit über die Mittel und Produktivität des Landes hinaus. Die dadurch bedingten Schuldenstände sind untragbar und die Wettbewerbsfähigkeit sinkt.

Die Ungleichverteilung hat sich dramatisch erhöht

Darüber hinaus haben wir es in Asien mit einem Modell zu tun, das auf einem Sozialvertrag beruht. General Parks Südkorea, das liberaldemokratisch-dominierte Japan und Lee Kuan Yews Singapur generierten Wachstum auf der Basis einer autoritären Führung. Der Weg durch die Falle des mittleren Einkommens ist immer steinig. Die Ungleichverteilung hat sich in China dramatisch erhöht, obwohl das Land mehr Menschen aus der Armut befreit hat als irgendeine andere Nation im Laufe der Wirtschaftsgeschichte – ist das also ein fairer Deal?

Die Kapitalanhäufung und ihre Prozesse setzen zwingend eine Ungleichverteilung voraus. Dieses Problem zu überwinden oder umzukehren ist nur in einer fortgeschrittenen, gefestigten Wirtschaft möglich. Für aufstrebende Wirtschaftsmächte ist Ungleichverteilung ein unvermeidbares, notwendiges Übel. Länder bleiben nicht nur wegen der Lohninflation oberhalb der Produktivitätsgrenze arm, sondern viel mehr wegen der sozialen Unruhen und dem, was davon weitergegeben wird und die Wachstumsgrundlagen einer Generation nach der anderen zerstört. Eine starke Führung, die sich dem sozialen Druck für eine schnelle Beseitigung der Ungleichverteilung beugt, während sie auf ein neues Wirtschaftsmodell zusteuert, ist in der Regel immer unzulänglich. So gesehen kann man sicher sein, dass Chinas Führung ihre Lehren aus dem lateinamerikanischen Populismus und dem Arabischen Frühling gezogen hat.

Eine neue Wirtschaftskrise?
Die Kernprobleme der alten Wirtschaft – die Falle des mittleren Einkommens, die Ineffizienz staatseigener Unternehmen, Monopolstrukturen, Reformen und Kapazitätsüberhänge – werden im 13. Fünfjahresplan, der die Entwicklung ab diesem Jahr vorantreiben soll, massiv bekämpft. Im nächsten Teil werden wir das Ziel des Plans aufschlüsseln: Chinas New Economy. Genauere Beachtung verdient ausserdem die Frage, ob die übersteigerte Hebelwirkung auf Nichtfinanzunternehmen (ca. 150 Prozent des BIP, ein doppelt so hoher Prozentsatz wie in den USA und dreimal so hoch wie in Deutschland) die alte Wirtschaftsordnung und damit die gesamte Weltwirtschaft mit in den Abgrund reissen könnte. Das würde bedeuten: Es kommt zu einer neuen Wirtschaftskrise, bevor Chinas New Economy erstarkt.

Der dritte Teil dieses Beitrags erscheint am 10. Februar 2016.

Bild: Tomas Casas i Klett

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