Meinungen - 24.10.2014 - 00:00 

Brasilien – Eine geteilte Gesellschaft

Am 26. Oktober 2014 wählt Brasilien sein nächstes Staatsoberhaupt. Vanessa Boanada Fuchs, ProDoc-Projektmanagerin am Centro Latinoamericano-Suizo de la Universidad de San Gallen, kommentiert die politischen und postpolitischen Aspekte der Wahl.
Quelle: HSG Newsroom

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23. Oktober 2014. In der ersten Wahlrunde vom 5. Oktober entfielen auf die gegenwärtige Präsidentin Dilma Rousseff (Arbeiterpartei) 41.59% (43,3 Millionen) der Stimmen, während sich Aécio Neves (Sozialdemokratische Partei Brasiliens) und Marina Silva (Sozialistische Partei Brasiliens) mit 33.55% (34,9 Millionen) bzw. 21.32% (22,2 Millionen) begnügen mussten. Obwohl in Brasilien Wahlplicht für jeden Staatsbürger ab dem achtzehnten Lebensjahr besteht, fehlten 38.8 Millionen Stimmen von Wahlberechtigten (Enthaltung oder Abgabe eines leeren Stimmzettel) - mehr als die Stimmen des zweitstärksten Kandidaten.

Die Stichwahl wird nun von Rousseff und Neves ausgegtragen. Umfrageergebnisse ändern sich täglich und weisen auf einen knappen Sieg des einen oder anderen Kandidaten hin. Die Wechselwähler von Silva könnten die diesjährige Wahl entscheiden; allerdings zeigt sich hier ein sehr viel komplexeres Bild.

Eine Möglichkeit für Politikverdrossene

Silva, die als Ersatz für den verstorbenen Kandidaten Eduardo Campos ins Wahlrennen stieg, pries einen dritten Weg für jene an, die sich weder von der Rechten noch von der Linken vertreten fühlten und etwas gegen Politik haben. Silvas Kampagne verkörperte einen postpolitischen Ansatz: farinha do mesmo saco («Mehl aus dem gleichen Sack») – alle sind sie vom gleichen Schlag, und sind sie einmal an der Macht, lassen sie sich um der Regierbarkeit willen zu Bündnissen und Zugeständnissen an andere mächtige Parteien verleiten, um im Nationalkongress eine Mehrheit zu erreichen, wobei Abtauschstrategien um die Beherrschung von Ministerien als Verhandlungsdruckmittel verwendet werden.

Silvas postpolitischer Anspruch zielte auf die gegenwärtige Krise in der politischen Vertretung ab und brachte ihr anderenfalls unwahrscheinliche Verbündete ins Lager, nämlich Umweltschützer, Privatbanken und Vertreter evangelistischer Konfessionen. Für die Stichwahl erklärte Silva ihre Unterstützung für Neves gegen Zugeständnissen seinerseits in Bereichen wie Umwelt und Nachhaltigkeit, Agrarreform, Vollzeitschulen und die Abschaffung von Wiederwahlen für Exekutivstellen. Ungeachtet von Silvas Unterstützungserklärung sind ihre Wählerschaft und ihre Partei gespalten.

Zwei Gruppen von besonderem Interesse

Die brasilianische Gesellschaft ist ebenfalls gespalten. Angesichts der Wahl zwischen Rousseff und Neves lassen die Brasilianer die politischen Debatten über die Rolle des Staates in der Wirtschaft und in der Sozialhilfe wieder aufleben; die Politik ist also doch nicht tot – was durch die Polarisierung der Diskussion klar ans Licht kam. Indes sind sich zwei Gruppen nicht sicher, wo sie hingehören, und sind deshalb in der diesjährigen Wahl von besonderem Interesse: der (neue) Mittelstand und die Umweltschützer.

Das brasilianische Wachstum

Während der zwölf Jahre der Lula/Rousseff-Regierung stiegen Millionen von Menschen in den Mittelstand auf. Das Programm für die Beschleunigung des Wachstums (PAC) vermittelte Impulse für eine positive Wachstumsspirale durch öffentliche Investitionen in umfangreiche Infrastrukturarbeiten, die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Wohlstandsverteilung und die Stimulierung des Binnenkonsums. Bezüglich des Aussenhandels profitierte das Wirtschaftsprogramm des Wachstums und der Vermögensumverteilung anfänglich von der grösseren Nachfrage nach Primärgütern – insbesondere Mineralstoffe – auf dem internationalen Markt. Dieses Modell überlebte die internationale Wirtschaftskrise und sorgt seit 2008 für die Sicherung der Beschäftigungsfähigkeit und die Aufrechterhaltung des inländischen Konsumniveaus, wenn auch seit 2011 mit tieferen Wachstumsraten.

Der neue Mittelstand

Die dem neuen Mittelstand zugeschriebenen Privatpersonen bilden keine geeinte Masse, was eine allzu starke Vereinfachung von vornherein ausschliesst. Diese demografische Gruppe verfolgt keine charakteristische Abstimmungsrichtung, sondern orientiert sich in dieser Hinsicht an anderen Faktoren wie z.B. Beruf und früheres politisches Engagement. Ein Teil identifiziert sich mit der interventionistischen Regierung, die Sozialhilfeprogramme durchführte, den Hunger ausmerzte und das Netz der öffentlichen Universitäten ausbaute; ein anderer Teil identifiziert sich mit der Forderung nach weniger Staatsintervention, einschliesslich einer niedrigeren Besteuerung von Einkünften, Produktion und Einfuhr. Der Gewinner der Wahl wird sich mit dieser zunehmend anspruchsvollen und breit gefächerten Wählerschaft auseinandersetzen müssen, deren gemeinsamer Nenner die Forderung nach mehr, besseren und verlässlichen öffentlichen Dienstleistungen ist.

Wogen glätten

Andrerseits hat die schnelle Expansion der brasilianischen Wachstumsdynamik auch die Kritik der Umweltschützer an der Reprimarisierung der brasilianischen Wirtschaft, dem Abbau natürlicher Rohstoffe in politisch und umweltmässig sensiblen Gebieten sowie der Missachtung des Umweltrechts hervorgerufen.

Die Basisbewegungen sind versucht, Rousseffs Umweltleistung abzulehnen, gehen jedoch seit jeher auf Distanz zur von Neves verfochtenen neoliberalen Agenda, und zwar ungeachtet seiner Wahlkampfzugeständnisse an Silva. Dementsprechend neigen die meisten dazu, sich der Stimme zu enthalten oder einen leeren Stimmzettel abzugeben. Dem Gewinner wird die Aufgabe zufallen, die Konfliktwogen zwischen der Agrarindustrie, den grundstückslosen Bauern, den einheimischen Völkern und den Umweltschützern zu glätten. Diese Aufgabe wird nicht leicht von der Hand gehen; beide Kandidaten erhielten Wahlkampfbeiträge von der Agrarindustrie und versprachen gleichzeitig, im Umweltbereich Wiedergutmachung zu leisten.

Dieses Jahr stehen die Zeichen auf einen knappen Wahlausgang, und dies sollte als symptomatisch für die gegenwärtige Vertretungskrise verstanden werden. Die wahre Herausforderung wird darin bestehen, ein Land zu regieren, dessen gegenwärtiger Zustand der Fragmentierung sich auch im Nationalkongress widerspiegelt, ohne wieder auf dieselben alten Strategien zurückzugreifen, die den postpolitischen Anspruch wieder zum Tragen brächten.

Foto: Kay Fochtmann / photocase.com

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