Leute - 28.04.2022 - 00:00 

«Aufgabe der Kirche ist es, zu den Leuten zu gehen – hinaus in alle Welt.»

Er gilt als unabhängiger, kritischer und unbequemer Denker. Seine Äusserungen und Reformvorschläge sind immer wieder Anlass für mitunter heftige Debatten: Martin Werlen war 12 Jahre lang Abt des Klosters Einsiedeln und ist seit 2020 Probst der Propstei St. Gerold im Vorarlberg. Für die aktuelle Ausgabe der Marketing Review St. Gallen hat HSG-Professor Sven Reinecke, Direktor des Institute for Marketing & Customer Insight mit ihm über Marketing in und für die Kirche gesprochen, wobei sich Martin Werlen gewohnt kritisch äusserte.
Quelle: HSG Newsroom

28. April 2022.

Sven Reinecke: Die Kirche hat in zwei Jahrtausenden bzgl. Marketing sehr professionell agiert. Das Kreuz ist weltweit sicherlich das bekannteste Symbol und somit ein Logo, das eindeutig und wiedererkennbar ist – und klare Assoziationen auslöst. Warum stösst Kirchenmarketing bei Theologen häufig auf Misstrauen und Ablehnung?

Pater Martin: So positiv würde ich das Marketing der Vergangenheit nicht beurteilen. Die Kirchtürme als Marketingzeichen sind zwar sichtbar – aber im Evangelium steht nichts von Kirchtürmen. Sie sind nicht etwas von der Kirche Gemachtes, sondern vielmehr vom damaligen Kaiser der Kirche Geschenktes. Und damit kommen wir zu einem heiklen Thema. Vieles, was die Kirche bis heute war und wie sie wahrgenommen wird, hat nichts mit ihrem Auftrag zu tun, sondern ist vom Kaiser, vom Staat, gegeben worden. Doch das ist letztlich nicht die Kirche. Das, was die Kirche eigentlich ist, stand in den ersten Jahrhunderten im Zentrum: Seht, wie sie einander lieben. Das war ein Markenzeichen, aber nicht ein Machtzeichen. Kirchengebäude und Kirchen sind heute dagegen noch häufig ein Machtzeichen. Und die Kirche hatte tatsächlich seit der konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert, als die Kirche im römischen Reich zur Staatsreligion wurde, bis ins 20. Jahrhundert eine grosse Macht. Vieles, was früher gut gelaufen ist, ist nicht aufgrund guten Marketings, sondern sehr oft aufgrund dieser grossen Macht geschehen.

Hat dann Macht sozusagen korrumpiert, so dass die Kirche sich nicht mehr so verhalten hat wie in den ersten Jahrhunderten, als das Christentum noch nicht Staatsreligion gewesen ist und die Gemeinde noch im Mittelpunkt stand?

Ich glaube, dass die grosse Macht, die der Kirche gegeben wurde, viel zerstört hat. Heute wird gefordert, die Leute sollten in die Kirche kommen – aber sie kommen nicht. Was meinen wir mit «Kirche»? Das Gebäude? Das Gebäude zum Gottesdienst gibt es im Evangelium nicht! In den ersten drei Jahrhunderten hat man sich zum Gottesdienst bei einer Familie getroffen, die eine grössere Stube hatte. Der Kaiser hat der Kirche dann um das Jahr 323 eine Basilika geschenkt, einen Kaiserpalast mit erhöhtem Raum für den Klerus. Das prägt die Kirchengestaltung bis heute. So ist der Bischofssitz, die Kathedra, ein Kaisersitz. Aber die Aufgabe der Kirche ist nicht zu warten, dass die Leute in die Kirche kommen. Aufgabe der Kirche ist es, zu den Leuten zu gehen – hinaus in alle Welt. Wir müssen unsere Sendung neu entdecken. Papst Franziskus hat kürzlich den französischen Theologen Yves Congar zitiert: «Wir brauchen nicht eine andere Kirche. Wir brauchen eine Kirche, die anders ist.» Das ist die Herausforderung für das Marketing heute. Wir sollten nicht Marketing machen mit Zeichen, die nicht im Evangelium gründen, die nicht die Kernbotschaft sind – sondern gerade das loslassen und das suchen, was der eigentliche Kern ist.

Im Marketing unterscheiden wir die 4 Ps: Produkt, Preis, Promotion und Place. Wenn ich versuche, das profan auf das Kirchenmarketing zu übertragen, kann man dann feststellen: Das Produkt, die frohe Botschaft, kann man kaum einfach neu schreiben. Der Preis, darüber spricht man ja nicht so gerne, das wäre die Kirchensteuer. Bei Werbung ist man eher zurückhaltend. Hat die katholische Kirche insbesondere ein Distributionsproblem, das heisst ein Problem mit der Weltkirche, wie sie heute ist?

Nein, das sehe ich ganz anders. Das Produkt, das ist die Gegenwart Gottes – die Tatsache, dass Gott da ist, die Liebe Gottes zu jedem Menschen. Ich denke, darum beneidet uns jede Firma – ein besseres Produkt gibt es kaum. Der Preis wäre auch nicht die Kirchensteuer: Diese ist lediglich dafür da, die Gemeinde zu organisieren. Vielmehr ist der Preis das eigene Leben: Ich bin eingeladen, dieser Liebe Gottes zu antworten, mich darauf einzulassen. Und Werbung meint zu erzählen, was ich selbst erfahren habe, was mich trägt, was mir Hoffnung schenkt – und das darf ich mit anderen auf eine unaufdringliche Weise teilen. Und Place, das ist nicht die Weltkirche. Place meint Adressat – und das ist der Mensch. So wurde die Kirche leider bisher nicht wahrgenommen. Aber ich denke, das ist ein ganz grosser Beitrag von Papst Franziskus, dass er immer wieder mahnt: «Gehet an die Ränder der Gesellschaft, um die Menschen dort in ihrer Not zu treffen.»

 

 

 

 

Wir brauchen eine Kirche, die anders ist. Das ist die Herausforderung für das Marketing heute.

 

 

 

 

 

Pater Martin Werlen

 

 

 

 

Eine gute Markenpflege benötigt ein Wechselspiel von Kontinuität und Aktualität. Man muss gewisse Werte pflegen, aber darf auch nicht verstauben. Du sprichst bei der Kirche von diesem Wechselspiel von Tradition einerseits und Zeitgeist andererseits. Droht die katholische Kirche nicht aufgrund mancher Traditionen zu verstauben?

Die Kirche ist nicht verpflichtet, Traditionen zu halten, sondern die Tradition zu wahren – und das ist die Treue zu Jesus. Traditionalisten sind meist nicht jene Leute, die diese Tradition der Treue hochhalten. Sie halten an Traditionen fest, die immer Zeitgeist einer bestimmten Epoche sind. Zum Beispiel ist die lateinische Sprache nicht die Tradition der Kirche: Das ist vielmehr eine der Traditionen, die um das Jahr 400 eingeführt wurde, weil die meisten Getauften damals Latein sprachen und nicht mehr Griechisch oder Hebräisch. Darum wurde auch die Bibel vom heiligen Hieronymus ins Lateinische übersetzt, mit dem Titel Vulgata – vulgär, «so wie die Leute sprechen». Tradition ist somit, dass das Wort Gottes so verkündet werden soll, dass die Menschen es verstehen. Eine der damaligen Traditionen ist die lateinische Sprache.

Also sollte man sich mancher Tradition entledigen?

Ganz klar. Viele Menschen verwechseln Traditionen mit der Tradition. Sie verwechseln Dinge, die einmal entstanden sind und damals auch sinnvoll waren, mit der Treue zu Jesus Christus. Traditionalisten sind Menschen, die Traditionen zur Tradition erklären, und dann lässt sich nichts mehr bewegen. Wenn wir heute noch eine Fronleichnamsprozession so feiern wie vor 200 Jahren, dann haben wir etwas Schönes für ein Museum, aber das hat nichts mehr damit zu tun, was wir eigentlich feiern: Christus in die Welt hineinzutragen. Im Gegenteil.


Das gesamte Interview, u.a. mit Aussagen zum Zölibat, den Missbrauchsskandalen und der Rolle von Papst Franziskus ist in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift «Marketing Review St. Gallen» nachzulesen sowie als Podcast verfügbar.

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