Meinungen - 05.01.2017 - 00:00 

Auf halbem Weg zur Mündigkeit

Auf dem alten Kontinent sind aus Nationalstaaten Mitgliedstaaten geworden – aber zehn, dreissig, auch sechzig Jahre Konkubinat schaffen noch kein europäisches Volk. Ein Meinungsbeitrag von Prof. Dr. Christoph Frei.
Quelle: HSG Newsroom

6. Januar 2017. Silvesternacht 2016. Während im offiziellen Europa der Europäischen Union ein vielfach vermaledeites Jahr verabschiedet und fast schon mit Erleichterung der Vergangenheit übereignet wird, versuchen 1100 Migranten aus dem südlichen Afrika, im Norden Marokkos über einen sechs Meter hohen Absperrzaun in eine spanische Exklave zu gelangen. Der Kontrast ist so krass wie bezeichnend. Dort, in Ceuta wie in Melilla, herrschen seit Jahren Zustände, die den humanitären Bekenntnissen Europas Hohn sprechen. In Brüssel, in Paris und Berlin sieht man aus Gewohnheit nicht genauer hin. In den Sonntagsreden zum Neuen Jahr gilt ohnehin, nach vorn zu schauen, die Ideale der europäischen Wertegemeinschaft hochzuhalten – auch und gerade in schwierigen Zeiten. Werte sind verlässlich, sie verbinden Relevanz mit moralischem Gehalt. Sie brauchen nicht mit Argumenten untermauert zu werden. Ihre Geltung wird vorausgesetzt. Fiat iustitia!

Gegen Werte ist in der Tat nichts einzuwenden – nicht gegen Freiheit, nicht gegen Demokratie, auch nicht gegen Menschenrechte. Werte geben Sinn und Richtung. Sie dienen der Rückversicherung konkreter Entscheidungen im Raum des Unbestrittenen. Werte sind hilfreiche Vehikel sozialer und politischer Kohäsion insofern, als Individuen und Gruppen unterschiedlichster Wahrnehmung und Weltanschauung sich vom je eigenen Standpunkt auf sie beziehen können. Dass Werte stets auch in dieser Funktion dienen, ist offensichtlich; man denke an die gemeineuropäische Kultur der Verfassungspräambeln.

Zu denken gibt indessen, dass die Europäische Union im Verhältnis zum Rest der Welt über das Beschwören von Werten und Institutionen nur in Ansätzen hinauskommt. Ob das aber reicht? Ob humanitäre Überzeugungen und demokratische Grundsätze durch global verflochtene Problemlagen tragen, ist zumindest fraglich. Ob Kredite zu sprechen, Allianzen zu schmieden, Interventionen zu beschliessen sind, lässt sich natürlich auch aus abstrakten Werten deduzieren («mit Assad gibt es kein Verhandeln»), doch hat die Reinheit solcher Gesinnung fast immer einen hohen Preis – und Folgen, die in der Regel andere tragen.

Das politische Spiel kennt eigene Regeln
Ohne Moral zu politisieren, ist verwerflich. Wie viel besser ist es aber, ohne politischen Willen zu moralisieren? Das politische Spiel folgt weder zuerst noch regelmässig den Normen der Ethik; es kennt andere, eigene Regeln. Was in der politischen Beurteilung zählt, ist nicht die Gesinnung von Akteuren, sondern das Resultat ihrer Entscheidungen. Relevant ist jener Wille, der wirkungsmächtig in die soziale Arena eingreift und den Dingen eine neue Wendung gibt. Putin zeigt es in Syrien, Erdogan in der Türkei. Man mag von beiden halten, was man will, aber beide kennen das Alphabet der Interessenpolitik.

Werte gegen Interessen? Hier wartet eine Unterscheidung, die gerne als heuristisch nicht haltbar abgetan wird. Immerhin: Interessen können benannt, sie können angepasst und ausgeglichen werden. Wie verhandelt man dagegen Werte, wie gleicht man sie aus? Solche Fragen sind weder überholt noch trivial. Wertefixierung kann interessenblind und machtvergessen, auf Dauer überdies unglaubwürdig und abhängig machen, wie die Aussenpolitik der Europäischen Union mit schöner Regelmässigkeit erhellt. Erst wenn wir unterhalb des Firmaments von Werten wissen, was wir im Einzelnen wollen, erst wenn wir das Gewollte sodann abgleichen mit den verfügbaren Mitteln und Möglichkeiten – erst dann werden wir politisch handlungsfähig. Es gehört zum zeitlosen Bemühen der realistischen Schule in den Internationalen Beziehungen (im 20. Jahrhundert Reinhold Niebuhr, Hans J. Morgenthau, George Kennan), das Bild guter, will heissen: kluger Politik nach solchen Aspekten hin abzurunden. Mit blosser Gesinnung ist es nicht getan.

Ein unvollkommenes, einzigartiges Projekt
Über Jahrzehnte hinweg hat sich ein Teil Europas den Luxus leisten können, im Windschatten der Weltpolitik, jedenfalls unter dem sicherheitspolitischen Schutzschirm der Vereinigten Staaten, ein einzigartiges Projekt voranzutreiben. Entstanden ist ein Gebilde, das sich auf die Verrechtlichung zwischenstaatlicher Beziehungen ebenso spezialisiert hat wie auf die funktionale Versachlichung ganzer Lebensbereiche. Dafür müssen sich die Europäer der Union nicht entschuldigen – im Gegenteil. Sie haben einen Lebensraum geschaffen haben, der unvollkommen bleibt, in mancher Beziehung aber seinesgleichen sucht.

Was diesem Gebilde noch immer an allen Ecken fehlt, ist ein gemeinsamer Wille, der über Menschenrechte und Marktinteressen hinaus politisch trägt. Auf diesen Willen werden wir noch lange warten. Frankreich und Ungarn, Spanien und Schweden sind über Jahrhunderte hinweg zu handlungsfähigen Strukturen erwachsen. Aus alten, stolzen Nationalstaaten sind unterdessen Mitgliedstaaten geworden, aber zehn, dreissig, auch sechzig Jahre Konkubinat schaffen kein europäisches Volk, keine politische Einheit.

Wie das Dilemma auflösen, wie das Defizit beheben? Rasche Abhilfe wird es nicht geben – für manche eine wohl inakzeptable Aussage in einer Zeit, die den Glauben an die Machbarkeit auf unerhörte Weise verinnerlicht hat. Aber nochmals: die Herausbildung von Identität, auch die Schaffung anerkannter Strukturen zur politischen Willensbildung ist kein technisches Problem, das sich über die Anwendung adäquater Methoden leicht beheben liesse. Die Zustände in Ceuta und Melilla erinnern täglich daran, ebenso das Ausbleiben einer europäischen Sicherheitspolitik, die diesen Namen wirklich verdient.

Christoph Frei ist HSG-Titularprofessor für Politikwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Internationalen Beziehungen.

Bild: Fotolia/Octavus

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