Hintergrund - 28.05.2020 - 00:00 

Geschichtsstunde: Alice Scheitlin – Pionierin des Frauenstudiums an der HSG

Das Frauenstudium war schon 1898 im Gründungsbeschluss der Handelsakademie St.Gallen, heute Universität St.Gallen (HSG), enthalten. Alice Scheitlin schrieb sich im Wintersemester 1900/01 als Hörerin ein und gehörte zu den Studentinnen der ersten Stunde.
Quelle: HSG Newsroom

Als erstes von zwei Kindern wurde Alice Sophie Scheitlin am 31. März 1883 in St.Gallen geboren. Ihre Eltern waren der St.Galler Kaufmann Bernhard Scheitlin und Pauline Gmür von Murg (SG). Über Alice Scheitlins Schulzeit ist nichts bekannt. Die Kantonsschule St.Gallen hat sie, nach den Akten zu urteilen, nicht besucht und hatte somit keine abgeschlossene Handelsmatura vorzuweisen.

Möglicherweise besuchte sie eine private Töchterschule, denn ihr Vater gehörte dem Besitzbürgertum an. Es ist auch gut möglich, dass sie, wie es für bürgerliche Töchter nicht unüblich war, einen Sprachaufenthalt im In- oder Ausland absolviert hat. Mit 17 Jahren schrieb sich Alice Scheitlin im Wintersemester 1900/01 als Hörerin an der Handelsakademie St.Gallen ein. Diese hatte 1899 ihren Lehrbetrieb gestartet –damals noch im Westflügel der Kantonsschule St.Gallen (heute Kantonsschule am Burggraben).

Frauenstudium an der Handelsakademie St.Gallen

Die Zulassung von Studentinnen zu den Universitäten führte noch im ausgehenden 19. Jahrhundert zu heftigen Debatten. Mit Beschluss vom 25. Mai 1898 regelte der st.gallische Regierungsrat in den Gründungsverhandlungen zur Handelsakademie St.Gallen, heute Universität St.Gallen (HSG), den Zugang für Studentinnen: «Der Besuch der Anstalt ist auch weiblichen Personen gestattet».

«Voraussetzung der Aufnahme ist bei den Studierenden die erfolgreiche Absolvierung einer Handelsmittelschule oder der Nachweis einer entsprechenden auf anderen Schulen gewonnenen Vorbildung. Als Hörer wird jeder zugelassen, dessen Vorbildung die Annahme gestattet, dass er in den belegten Fächern dem Unterricht bzw. dem Vortrag mit Verständnis zu folgen vermag», hiess es in einem Prospekt der Akademie von 1904.

Erfolgreiche Absolventin

Ab 1902 bot die Handelsakademie unter der Leitung von Direktor Karl Emil Wild Vorkurse an. Diese sollten «die Lücken beseitigen, die sich etwa in den sprachlichen und besonders auch in den kaufmännischen Vorkenntnissen zeigen».

Alice Scheitlin besuchte während eines Semesters den Vorkurs und immatrikulierte sich im Sommersemester 1903 als reguläre Studentin an der Handelsakademie. Scheitlin belegte neben sprachlichen Fächern u. a. Volkswirtschaft und Wirtschaftsgeschichte, Handelsrecht sowie Buchhaltung und Verrechnungswesen. Im November 1905 schloss sie das Studium erfolgreich mit der kaufmännischen Diplomprüfung ab. Bewertet wurde ihr Abschluss durchweg mit den Noten 1 und 2 und dem Vermerk «Fleiss durchwegs sehr gut. Leistungen gut bis recht gut».

In einer viel zitierten Untersuchung des Schweizerischen Verbands der Akademikerinnen aus dem Jahr 1928 wurde Alice Scheitlin als erste Absolventin der Handelsakademie bezeichnet – ein Titel, der nicht ganz zutreffend ist. Tatsächlich war die St.Gallerin «nur» die dritte Frau mit einem Diplom der Handelsakademie. Wenige Monate vor ihr hatten bereits Elisabeth Rannacher aus St.Gallen (Sprachendiplom) und Henriette Zoller aus Rumänien (Kaufmännisches Diplom) die Abschlussprüfungen erfolgreich absolviert.

Auswanderung in die USA

Nach Abschluss ihres Studiums arbeitete Alice Scheitlin bis Juli 1913 in St.Gallen als Sprachlehrerin für Französisch und Englisch. Im Januar 1915 zog sie nach Bern um. 15 Jahre später, 1930, siedelte sie nach Newark, New Jersey (USA) über und arbeitete dort wiederum als Sprachlehrerin. Nachweislich war sie ab 1940 als Versicherungsangestellte in Orange, New Jersey (USA) angestellt.

Alice Scheitlin starb am 9. September 1974 hochbetagt, ledig und ohne Nachkommen in St. Petersburg, Florida (USA).

Portal zur Geschichte der Universität St.Gallen

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